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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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tat einen weiteren Schritt, ohne dass sich das Tier von der Stelle bewegte; es beobachtete ihn mit leicht pendelnder, aufwärts gebogener Rute, verharrte selbst dann noch, als Cinna auf die flache Böschung stieg, als er keinen Schritt mehr entfernt war und langsam beide Hände ausstreckte, ohne recht zu wissen, was er tat. Das Tier weckte Erinnerungen. Wölfin. Adler. Aber vor allem die Wölfin, welche die ausgesetzten Säuglinge, Zwillinge, wie ihre eigenen Kinder genährt hatte. Die Gründer Roms.
    Die hellgrauen, schwarz umrandeten Augen des Tieres ließen sich von seinem Blick bannen. Die Ohren fielen leicht zur Seite, als es mit einem fast menschlichen Seufzen den Kopf vorstreckte und die Schnauze in seine Hände grub.
    Cinna wagte kaum zu atmen, konnte kaum dem Blick standhalten, der seinen zu beantworten schien, eine Antwort, die er ebenso wenig entziffern konnte wie das metrische Gemurmel einer Sibylle. Wölfe haben keine Worte, doch sie haben Augen, die ihr Opfer durchbohren.
    Die dünne Zunge fuhr über seine Handinnenflächen. Tastend strichen messerscharfe Zähne an den Fingern entlang. Plötzlich machte das Tier einen Satz, stieß ein Jaulen aus und stob davon in den Wald, wo es augenblicklich verschwand. Enttäuscht ließ Cinna die Schultern hängen, während er zum Weg hinunterschlenderte.
    »Er hat dich angeschaut!«, rief Saldir ihm zu. »Er hat dich berührt und nicht zerrissen!«
    Sie sprang zu ihm, ergriff die Hand, die noch feucht war von der Wolfsschnauze, betrachtete sie, roch daran, bevor sie zu ihm aufblickte. In ihren Augen lag ein sonderbarer Schimmer, den er nur allzu gerne als Bewunderung deutete. Er hörte das Murmeln der Trauergemeinde, die sich abwandte, die Köpfe zusammensteckte und sich den Weg zum Dorf entlang schob. Zögernd folgte er ihnen. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie Abstand hielten, scheu zu ihm herüberblickten, selbst Hraban und Inguiomers.
    Nur Saldirs kühle Finger umklammerten entschlossen seine Hand.
    *
    Gritha war mit ihren wenigen Habseligkeiten ins Haus des Dorfherren gezogen und wurde nächtens bei Swintha einquartiert, die darüber gar nicht glücklich schien. Eine Familie aus dem Dorf hinter den Feldern übernahm das Häuschen des Fischers. Der Vater schickte den jüngeren Sohn in das Haus seines Herrn, und nun trabte der auffallend braun gebrannte Junge ergeben hinter Hraban her und ließ sich nicht vertreiben. Schon am zweiten Tag nach der Bestattung bereitete Swintha eine weitere Nische vor, in die sie Cinnas kostbare Lammfelldecke auf frisch aufgeschüttetem Stroh ausbreitete, dazu neue Laken und Decken. Er wurde mit einem eigenen Schlafplatz geehrt, den er mit niemandem teilen musste.
    Dass diese Ehre zweifelhaft war, musste er schon in der folgenden Nacht einsehen, als er fröstelnd erwachte und erkannte, dass es jetzt das Privileg des Jungen war, nur leicht die Decke lüpfen zu müssen, um von Margios verschwitzter Wärme überflutet zu werden. Ein eisiger Hauch blies über Cinnas Schultern und nötigte ihn, die Decken noch fester um sich zu ziehen.
    Ein einzelnes Käuzchen ließ sein dumpfes Gurren hören. Es war die dunkelste Stunde der Nacht, in der das Morgen in unerreichbare Feme schwindet und alle Gedanken, denen man nachhängt, die Finsternis suchen. In seinen Händen lag feucht die Erinnerung an die Wolfsschnauze, die tastende Zunge, die Zähne, wie ein Mal, das ihn entstellte und zugleich auszeichnete. Einen ganzen Tag lang hatte Hraban kein Wort mit ihm gewechselt; er war beschäftigt gewesen, den neuen Fischer in seine künftigen Aufgaben einzuweisen und sich mit dessen Sohn abzugeben, der ihm nachlief wie ein Hündchen. Während ein erster Vogel sein Lied dünn über den Hof erklingen ließ, schwand das kalte Mal, das der Wolf dort hinterlassen hatte.
     
    Als Cinna mit dem Fang zum Steg zurückkehrte, kauerte dort Swintha, neben ihr ein großer Korb mit Wäsche und auf ihrem Gesicht ein zaghaftes Lächeln. Er kletterte aus dem Boot und schickte sich an, die beiden Kübel zum Dorf hinaufzutragen, da ergriff sie seine Hand.
    »Komm mit! Ich muss dir etwas zeigen.«
    Sie zog ihn am Ärmel hinter sich her zum Waldrand, ließ ihn los, um vorauszulaufen, kicherte, als er verwundert seine Schritte verlangsamte. Sie winkte ihm zu folgen, was er tat, zuerst zögernd, dann belustigt. Schließlich blieb sie stehen, lehnte sich an einen der dicken Baumstämme, die der Wald in Fülle bot, besprenkelt von Lichtflecken, die auf ihrem Kleid

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