Der Tribun
Kleidern. Selbst wenn er sie hätte überwältigen können, ihr rauben, was sie in Daguvaldas Augen wertvoll und achtbar machte, war die Angst vor einer Entdeckung, vor der unausweichlichen Bestrafung mit dem Tod ein zu hoher Preis. Doch noch immer glühte ihre Haut an seiner, atmete er ihren Duft, und selbst als er sich vom Boden erhob, den ihre beiden Körper erwärmt hatten, kehrte keine Ruhe in ihn zurück.
*
Wie zu erwarten, wurde Liubas Rückkehr von den Kriegern begrüßt, und niemand nahm Anstoß daran, dass Cinnas Bewegungsfreiheit auf die Burg und die nächste Umgebung beschränkt wurde. Hrabans aufkeimenden Widerspruch dämpfte Inguiotar mit einer knappen Geste, und so musste Cinna mit dem zweifelhaften Vergnügen des Nichtstuns vorlieb nehmen. Saldir hatte mehr als ausreichend Gelegenheit, sich das sonderbare Verhalten der karthagischen Königin Dido erklären zu lassen und erfreute ihn mit einigen holprigen Passagen aus cheruskischen Heldenliedern, deren Sinn ihm verschlossen blieb. Gelegentlich stahl sich Inguiomers von den Übungsstunden mit den Brüdern davon und ließ sich von Cinna heimlich weitere Finten zeigen.
Nicht nur um Liuba zu besänftigen, verbrachte Cinna viel Zeit damit, die Pferde zu versorgen; auf diese Weise war es ihm möglich, nach Sunja Ausschau zu halten, ohne dass es irgendjemandem auffiel. Er konnte ihr stumme Zeichen geben, beredte Blicke zuwerfen, und oft fand er Gelegenheit, sich ihr zu nähern, wenn er Wasser vom Brunnen holte oder um Heilkräuter für eines der Pferde bat.
Wieder einmal saß sie auf der Bank in der Nähe des Brunnens, eine Webarbeit zwischen sich und den Zaun gespannt, um in der Nachmittagswärme ein weiteres buntes Band herzustellen; wie die Saiten einer Windharfe zitterten die Fäden in den Böen, die mit ihrem Haar spielten. Cinna griff nach dem Kübel, schlüpfte durch das Gatter und schlenderte in Richtung des Brunnens, als ihn jemand rief.
Er erstarrte, als Ahtala sich ihm in den Weg stellte. Langsam setzte Cinna den Kübel ab, richtete sich ebenso langsam wieder auf und erwartete mit leicht gesenktem Kopf die Anklage. Doch Ahtala schwieg, und je länger er schwieg, desto klarer begriff Cinna, dass er nach Worten rang. Dass es nicht um Sunja ging, und dass er zu aufgewühlt war, um einen Argwohn zu fassen, als er Cinna gesehen hatte. Sunja hatte ebenfalls innegehalten, beugte sich tief über ihre Arbeit, als suche sie nach einem Fehler im Gewebe, wobei sie die Schultern verräterisch hochzog. Aber das geschah hinter Ahtalas Rücken, dessen bebende Lippen und fleckige Wangen verrieten, dass er all seinen Mut zusammengenommen hatte, um Cinna entgegenzutreten.
Den Kopf hebend, fing Cinna Ahtalas Blick auf und bemerkte, dass Sunja hastig ihre Sachen in einem Beutel verstaute und davonlief. Er gestattete sich ein winziges Lächeln, dessen heller Widerschein auf Ahtalas Gesicht ihn warnte; das war es, was der andere gesucht hatte, ein Ende des finsteren Schweigens.
Cinna schluckte hart. Als das Lächeln in seinen Mundwinkeln einfror und er die Stirn runzelte, schlug Ahtala die Augen nieder. »Ich kann niemals wiedergutmachen, was … geschehen ist«, murmelte er. »Es wäre besser gewesen, ich wäre von einem aus Varus’ Stab erschlagen worden.«
»Du wirst mit dieser Schuld leben müssen«, erwiderte Cinna. »Weglaufen kannst du nicht.«
»Was soll ich tun? Mich zu den Römern aufmachen und deren Gerichten stellen?«
Cinna dachte an die Alpträume, die ihn lange verfolgt hatten, die Gesichte und Bilder einer sich nur zögernd wieder öffnenden Erinnerung, und er fragte sich, ob Ahtala Ähnliches durchgemacht hatte. Vielleicht noch immer durchmachte, denn es musste ja einen Grund dafür geben, dass er Versöhnung suchte, anstatt in grimmigem Triumph zu verharren wie Waihtis.
»Kann ein noch so schrecklicher Tod eine Sühne sein für das, was geschehen ist?«, begann Cinna vorsichtig, und als Ahtala schwieg, fügte er hinzu: »Würde dadurch etwas ungeschehen gemacht?«
Er hörte Schritte hinter sich, und kurz darauf lag eine Hand auf seiner Schulter. Hraban drückte den Henkel des Kübels in Cinnas Hand, ehe er sie beide vor sich her zum Brunnen schob, wo er ihnen leutselig die erfreuliche Aussicht eröffnete, dass seine Hochzeit mit Thiudawilis Tochter ihnen noch mehr Einfluss und Sicherheit verschaffen würde, als sie durch die Verbindung mit Dagumers’ Familie gewannen. Doch die schönste Schilderung jenes Mädchens verblasste angesichts der
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