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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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bevor er einen winzigen Schluck davon nahm und auf der Zunge liegen ließ. Kein samtiger Falerner, den er aus seinem Vaterhaus gewohnt war, und auch kein edles Gewächs von den Albaner Bergen, nicht die schwere Süße und der Hauch von Harz, die den Weinen von Lesbos zu Eigen sind, und es waren weder Honig noch feine Gewürze, sondern nur Wasser, sehr viel Wasser beigemischt.
    Geleert gab er ihr den Becher zurück und wischte sich verstohlen mit dem Hemdsärmel über die Lippen, um einen Anflug des Duftes für sich zu behalten. Auf dem Gesicht der Frau entdeckte er Heiterkeit, die ihre Mundwinkel rundete, als sie sich abwandte, um aus dem Schatten der Schlafnische der Mädchen ihre jüngste Tochter hervorzuziehen. Das Kind zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, doch die Blicke hingen an der großen Schwester, die neben Cinna stand.
    »Du sollst Saldirs Lehrer sein«, sagte diese, »und sie die Kunst des Schreibens lehren.«
    Cinna stutzte; jäh fuhr er herum. »Lehrer? Ich?« Ihr Nicken ließ den Zorn neu aufflackern. »Weißt du eigentlich, wen du vor dir hast?«
    Beide Frauen zogen wortlos die Brauen hoch, während Saldir sich hinter ihren Röcken versteckte. Entmutigt stellte er fest, dass er keine Wahl hatte. Lehrer. Lehrer eines nicht einmal halbwüchsigen Kindes. Elementarlehrer. Nicht nur, dass er eine Geisel war – er sollte eine Arbeit tun, die man Sklaven oder bestenfalls Freigelassenen zuwies, aber nicht dem Sohn eines ehemaligen Consuls. Und als ob das nicht schmachvoll genug wäre, sollte sein Schüler obendrein ein Mädchen sein.
    »Wie kommt ihr darauf …?«
    »Du kannst lesen und schreiben, und zu anderen Arbeiten werden wir dich so bald nicht heranziehen können«, sagte Sunja.
    »Wie soll jemand einem Kind das Schreiben beibringen, wenn es nicht einmal Latinisch spricht?«
    »Sie spricht Latinisch – zumindest ein bisschen. Genug, um zu verstehen.«
    Wie betäubt folgte er Sunja, die ihre sichtlich widerstrebende Schwester zum Gartenzaun führte, wo eine roh gezimmerte Bank sie erwartete, und sich dann in einiger Entfernung mit ihrer Brettchenweberei niederließ.
    *
    Am folgenden Morgen schlenderte Rieses jüngster Sohn zu der Bank, wo das allmählich zutraulicher werdende Mädchen kaum leserliche Buchstaben in den Sand malte. Er mochte etwa zwölf Jahre alt sein, wie Cinna aus dem schlaksigen Wuchs und dem sommersprossigen Gesicht schloss. Nachdrücklich zupfte der Junge an dem zerrissenen Hemd, das Cinna in Ermangelung weiterer Kleidungsstücke inzwischen unangenehm am Leibe klebte; dann ließ er sich neben Saldir auf der Bank nieder.
    Saldirs Buchstaben gerieten unleserlicher denn je unter den prüfenden Blicken des Bruders, manche kritzelte sie falsch herum, andere verwechselte sie, während der Knabe die Nase rümpfte.
    »Ein Mädchen ist zu dumm für die Buchstaben«, verkündete er hochnäsig. »Ein Mädchen soll lernen zu spinnen und zu weben, das Haus zu versorgen und Kinder zu hüten. Das sind die Aufgaben der Frauen. Für das Lesen und Schreiben gibt es Sklaven wie dich oder durchreisende Händler.«
    Die Verblüffung darüber, dass der Junge Latinisch sprach, wich einem Gefühl der Erniedrigung. Cinna räusperte sich, während er um eine passende Erwiderung rang.
    »Die Kenntnis unserer Sprache bringt eurem Volk Nutzen. Deine Schwester wird ihre Söhne lehren können, ohne sich eines Lehrers bedienen zu müssen.«
    »Meine Schwester wird ihre Söhne nicht lehren müssen!«, versetzte der Junge. »Sie wird Lehrer wie dich in ihrem Hause haben, wenn deinesgleichen längst nicht mehr frei über die Erde schreitet.«
    Der gestelzte Ausdruck und die harte Aussprache des jungen Wilden lockten ein boshaftes Grinsen auf Cinnas Gesicht. »Deinesgleichen wird auf ewig Bauernvolk bleiben und auf ewig von meinesgleichen beherrscht werden.«
    Ein wildes Zucken flog über die Züge des Knaben; er verlor jede Farbe, unter den glitzernden Augen leuchteten rote Flecken. Seine Rechte sauste durch die Luft, traf Cinna empfindlich im Gesicht, dann stolzierte er mit wehendem Umhang davon.
    Im Sprung wurde Cinna von einer Hand gehemmt, die seinen Arm gepackt hatte und ihn zum Stehen zwang. Die Fäuste geballt, Lippen und Zähne schmerzhaft aufeinander gepresst, sah er, wie der Junge widerwillig Hrabans Ruf folgend zurückkehrte, hörte, wie er widerstrebend Worte der Entschuldigung über die Lippen brachte, während das Blut in seinen Wangen pulste.
     
    Als Saldir ihm freudestrahlend die Schreibtafeln

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