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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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entgegenstreckte, wusste Cinna, warum sie ihren Vater in den letzten Tagen umschmeichelt hatte wie ein Hündchen. Zögernd schloss er die Finger um die Rähmchen, von deren Bindung noch die Schnüre baumelten, und hielt das Dokument eine Weile fest in beiden Händen. Dann strich er über das warme Holz und klappte es auf. Sein Blick fiel auf die formelle Anrede: »Lucius Asprenas entbietet Quinctilius Varus, dem Legaten des Augustus im Rang eines Praetors in der Ger mania, seinen besonderen Gruß.« Er rieb den Daumen am Oberschenkel, fuhr damit fest über die steile, übergenaue Handschrift des Verbanius, des persönlichen Schreibers des Befehlshabers von Mogontiacum, und ließ Zeile um Zeile schwinden. Jeden Buchstaben, den er löschte, prägte er seinem Gedächtnis ein. Wenn die Wilden dieses Beweisstück dafür, dass Meuterei und Aufstand bereits aufgedeckt worden waren, vernichten wollten, er würde es bis zu seinem Tode bewahren. Als Zeugnis seines Versagens. Wenn es in seiner Macht stünde, würde er versuchen, die ungenannten Verdächtigen zu entlarven. Es war das Einzige, was er tun konnte.
    Später ritzte das Mädchen mit einem entrindeten und gespitzten Zweig krakelige Buchstaben in das graue Wachs. Von Tag zu Tag blickte sie aufmerksamer, verlor sich die Schüchternheit und wich einer stillen, aber wachen Freundlichkeit, deren Wärme Cinna beinahe ebenso entzückte wie der helle und biegsame junge Geist, der aus ihrem Gesicht strahlte. Nur wenn sie lachte, perlte das leise, silbrige Glucksen noch immer in die kleinen Hände, und die Tafeln rutschten klappernd von ihrem Schoß auf die Erde. Voller Fragen war sie, die in immer größerer Zahl fielen, Fragen nach dem Leben der vertriebenen Besatzer, die ihr bis zu seiner Ankunft unvorstellbar fremd gewesen waren, aber was er vermisste, wollte er nicht verraten.
    Bittere Sehnsucht trieb ihn um und zog seinen Blick immer wieder auf die gen Sonnenuntergang liegenden Berge. Es war verrückt, es war vollkommen aussichtslos, von hier zu flüchten. Niemand bewachte ihn, nur Sunja blieb während des Unterrichts in der Nähe, ohne jedoch sonderlich auf ihn zu achten.
    Schließlich, nachdem sie einige Unterrichtsstunden lang stumm über ihr Schreibzeug gebeugt dagesessen hatte und ohne eine einzige Frage seinen Ausführungen gefolgt war, begann Saldir, den entrindeten Zweig zwischen den Fingern zu rollen, während ihr Blick unter den hellen Wimpern emporleuchtete.
    »Dein Haar ist nicht wie das unsrige. Es ist schwarz wie die mondlose Nacht. Wie Rabenflügel.« Sie schluckte hörbar. »Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt.«
    Er sah die frühere Schüchternheit auf ihren Wangen schimmern und beugte lächelnd den Hals. Zaghaft strich sie über eine längere Strähne, dann fuhr sie ihm tastend über das Haupt, und schmerzhaft traf ihn diese unwillentliche Liebkosung.
    *
    Tagelang trieben nasse Schwaden unter dem tief hängenden grauen Himmel. Die Sonne versank unsichtbar und stand am Morgen als blasse Scheibe über den Hügeln. Eines Abends kam Sturm auf; Wolken stoben über das Land, und das letzte Licht brach grellrot durch das Grau und zerriss den nassen Dunst.
    Als die Barbaren sich in ihre Schlafnischen zurückgezogen hatten, das Flüstern nach einem scharfen Knurren des Riesen erstarb, heulte der Wind durch die Winkel und flog als kalter Hauch durch das Haus. Er zerrte an den Strohhalmen des Daches, während der Mond hin und wieder einen Flecken Licht durch die Giebelluke warf. Die Glut des Herdfeuers war vollständig gelöscht, damit im Luftzug keine Flammen zum Leben erwachten und hungrig auf Teppiche, Decken oder Dach überspringen und das Haus auffressen würden.
    Schlaflos lag Cinna und grübelte über seine Lage, betete den Brief herunter und die Befehle, die er seinem Gedächtnis anvertraut hatte. Er hatte keine Ahnung, wohin er verschleppt worden war, abgesehen davon, dass dieses Dorf im Gebiet der Germania lag, irgendwo westlich des Visurgis, was bei der Ausdehnung dieser neuen Provinz nicht viel besagte. Ein Teil des Landes befand sich im Aufruhr. Aber es gab zahllose Straßenposten und kleinere Standlager, und einzelne Truppenteile waren an verschiedenen Orten stationiert worden. Die Rebellen konnten nicht überall zugleich sein. Wenn man sich in südwestlicher Richtung durch die Wälder schlug, musste man spätestens an den Ufern des Rhenus auf römische Truppen stoßen. Und selbst wenn die Flucht misslänge, war der Tod von der Hand des Feindes

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