Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
Vom Netzwerk:
ich …?«
    »Das wage ich nicht. Ich muss es vor Liuba verstecken. Und ich möchte nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn er es bei dir findet.«
    Der Wind jagte einzelne Blätter über den Hof, und sie presste die Arme noch fester gegen ihre Brust; doch sie blieb stehen.
    »Er kann jeden Augenblick zurückkommen«, setzte sie zögerlich hinzu. »Vielleicht, wenn er wieder einmal unterwegs ist.« Sie senkte den Kopf. »Ich weiß, dass Vater vor langer Zeit Teile davon gehört hat, und dass es ihm gefallen hat. Ich würde es ihm gerne vorlesen. Auch wenn ich darin nicht gut bin.«
    »Ich könnte das tun.«
    Ihr Gesicht flog hoch und leuchtete freudig. »Wirklich? Aeneas’ Abschied von Dido – würdest du ihm das vortragen?«
    »Wenn ich es vorher durchlesen kann. Es ist schon eine Weile her …«
    Ihre Hand schloss sich um seinen Arm, ihre Augen leuchteten auf. »Ich werde es dir zukommen lassen. Sobald es geht. Aber zuerst muss Mutter es verstecken, bis Liuba die Suche aufgegeben hat.« Ihr Gesicht verdunkelte sich. »Gunthis war dabei, als ich es kaufte, und sie wird petzen, damit er ein bisschen freundlich zu ihr ist. Armes Ding! Wenn sie wenigstens schwanger werden würde …«
    Sie ließ seinen Arm fahren, eilte davon, und plötzlich fror er in der matten Wintersonne.
    *
    Gunthis schien Stillschweigen zu bewahren; sei es, weil sie es sich mit den übrigen Frauen nicht verderben wollte, sei es, weil sie eingesehen hatte, dass sie Liubas Liebe auf diese Weise nicht erringen konnte. Denn er liebte sie nicht, das war offenkundig. Bald ignorierte er sie, bald bedrängte er sie und ließ es sich bei jeder Gelegenheit anmerken, dass sie ihrer vornehmsten Pflicht nicht Genüge tat. Daher verwunderte es niemanden, dass Gunthis ihm zunehmend aus dem Weg ging und die Nähe von Thauris suchte, vor der Liuba genügend Achtung verspürte, um sich zu beherrschen.
     
    Ein Laut ließ Cinna herumfahren; Saldir huschte um das Haus, in der Hand die Wachstäfelchen – vielmehr, was davon übrig geblieben war.
    »Er ist weg. Er ist für ein paar Tage weggeritten.« Es klang wie ein kleiner Triumph. »Wirst du mir helfen?«
    Fast lautlos stieß er den Atem durch die Nase aus. Und trotzdem brachte ihn der Anblick ihrer von Eifer leicht geröteten Wangen zum Lächeln.
    »Sunja hat mir ein Rätsel gestellt, das einfach nicht aufgehen will«, plapperte sie fröhlich. »Sie will mich bestimmt nur loswerden.«
    »Dann zeig’s mir.«
    Sie streckte ihm die Täfelchen entgegen. Ungelenke Vierecke waren in das dunkle Wachs geritzt, verwischt und neu hineingeritzt; die deutlichste Zeichnung war ein gevierteltes Quadrat. »Was ist das?«
    »Sie sagte, ich solle ihr ein Quadrat zeichnen, das genau doppelt so groß sei wie dieses.«
    »Was …?« Er riss ihr das Täfelchen aus der Hand und starrte darauf. Der warme Umhang rutschte von seinen Schultern.
    »Ich kann es nicht lösen. Ich sagte ihr, dass es keine Lösung geben kann, aber sie erwiderte, es gebe eine. Es gebe immer eine Lösung.«
    Beinahe zärtlich ließ er die Hand über das Wachs gleiten, rieb die Finger fest aneinander und fuhr dann mit dem angewärmten Daumen über die Zeichnung, um sie langsam verschwinden zu lassen. Sein Kopf war wie leer.
    »Weißt du, wenn ich die Seiten doppelt so lang mache, ist es viermal so groß, und wenn ich nur die Hälfte dazunehme, stimmt es auch nicht – es stimmt nie!«, maulte sie.
    Ohne aufzublicken, gab er ihr einen Wink, ihm den Griffel zu geben, den sie ihm nur widerwillig überließ, und ritzte mit diesem ein neues, sauberes Quadrat in das dunkle Wachs. »Sag mir, wie du es halbieren kannst.«
    »Aber …« Sie stutzte.
    »Sag schon!«
    Sie griff nach dem Stift, doch er schüttelte den Kopf. Also zog sie mit dem Finger eine unsichtbare senkrechte Linie mitten durch die Zeichnung, »So«, und eine waagerechte, »und so.«
    Stumm erwiderte er ihren fragenden Blick; dann schaute sie nochmals auf die Tafel. »Ich verstehe nicht …«
    Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie deutete mit dem Finger eine Diagonale an. Sie sah ihn an, dann wieder die Zeichnung, den Kopf leicht schräg gelegt wie ein Welpe. »Du meinst … wenn ich das Quadrat so teile und ein zweites, genauso großes … und die Teile dann zusammenlege …?«
    Sie rutschte auf die Bank und zeichnete vornübergebeugt mit den Fingern ein solches Quadrat in den Staub, das sie durch eine Diagonale in zwei Dreiecke zerschnitt. Flink wischte sie die eine Hälfte weg, zeichnete sie

Weitere Kostenlose Bücher