Der Tribun
Morgens weißer Puder die Wipfel bedeckte. Wolken ballten sich über dem Tal und ließen dicke Flocken herabschweben, welche die dunklen Farben des Herbstes zudeckten.
Inguiomers und Saldir waren nirgends zu sehen. Die Kinder tobten auf den Wegen im Dorf, bekämpften sich mit Schneebällen, balgten sich in der eisigen Pracht, rollten große Kugeln, die sie zu vielerlei Figuren türmten, und sie gaben nicht eher Ruhe, bis die weiße Schicht sogar von den Dächern weitgehend verschwunden war.
Sobald das Herdfeuer nachts heruntergebrannt war, froren die Menschen in den Nischen unter den tief hinuntergezogenen Dächern, obwohl zahllose Decken sie vor der Kälte schirmen sollten; Brandgefahr und beißender Rauch gestatteten es nicht, die Kohlen in der Feuerstelle zu entfachen.
Erst zu vorgerückter Stunde des Tages erhoben sie sich, wagten sich nach einer kleinen Mahlzeit in die peinigende Erfrischung des Wintertages, verrichteten ihr Tagewerk tunlichst unter den schützenden Dächern von Haus und Stall, um sich früh zu wärmend geselligem Beisammensein am Herd einzufinden und die langen Abende mit Geschichten und Liedern zu verbringen. Die endlosen Heldenepen mit ihren eintönigen Metren hatten auf Cinna eine einschläfernde Wirkung; so kauerte er zu später Stunde mit brennenden Augen dicht beim Feuer und kämpfte mit der Müdigkeit wie der Gott auf dem donnernden Wagen mit den Riesen und Wölfen, bis er schließlich einnickte.
Manchen Abend starrte er traumverloren auf die Wand, wo Inguiotars Schwert, Lanzen und Schild aufgehängt worden waren und der Wolfsbalg, Insignien seiner Stärke. Den reich verzierten Waffen maßen die Menschen eine Macht bei, die ebenso einem heimischen Larenschrein hätte innewohnen können. Cinnas besondere Aufmerksamkeit galt dem Schwert. Die lange, schmale Klinge, die niemand berühren durfte, steckte in einer mit kunstvoll durchbrochenen silbernen Beschlägen geschmückten und gebleichten Lederscheide. Hirsche kämpften darauf mit Hunden und krümmten sich unter Pfeilen und Spießen. Oft betrachtete Cinna das Spiel des flackernden Lichtes auf dem Metall, kämpfte mit dem Wunsch, die schöne Waffe zu rauben, sich den Weg frei zu schlagen. Er träumte, dass er sich heimlich erhob und wachsam sichernd hinüberschlich, dass er nach dem Schwert griff, doch sobald er es berührte, sobald er es entblößte, zerbarst der Boden unter seinen Füßen mit krachendem Getöse, und er schrak schweißgebadet aus dem Schlaf.
Die Dunkelheit zermürbte ihn. Der Schnee schmolz unter Regengüssen dahin, doch die Kälte blieb, und die Sonne war blass und kraftlos geworden. Von Sunja sah Cinna kaum mehr als ihren Schatten. Die Nägel hatte er sich zerbissen bei den Versuchen, die unsinnigen Wünsche zu bekämpfen, die ihr Anblick in ihm erwachen ließ. Wahllos und unaufgefordert ergriff er jede Gelegenheit sich zu beschäftigen, er striegelte die Pferde, putzte das Lederzeug, fegte den Hof. Denn sobald er sich ausruhte, verlor er sich in Überlegungen, wie er auch nur irgendeinen Eindruck auf sie machen könnte. Sinnlose Überlegungen. Sie beachtete ihn nicht, ohne sich jedoch anders zu verhalten als vor jenem Tag beim Quellheiligtum. Manchmal wollte er ihre freundliche Zurückhaltung als Verlegenheit deuten – aber er glaubte, es besser zu wissen.
»Gib es zurück! Gib es zurück!«, gellte Sunjas Stimme aus dem Haus.
Kichernd rannte Saldir über den Hof. Neugierig bog Cinna ums Haus, als er mit der Kleinen zusammenprallte. Ihre Faust umklammerte etwas. Sanft schob er sie von sich. Wenn Liuba in der Nähe war, musste er sich von ihr fern halten.
Sunja flog beinahe um die Ecke. Als Saldir entwischen wollte, packte sie ihr Kleid und zerrte das heftig widerstrebende Mädchen zu sich.
»Gib es zurück! Ich beschwöre dich bei Ertho! Gib –«
Saldir schleuderte etwas in den Staub. Erst in diesem Augenblick schien Sunja zu bemerken, dass sie mit ihrer Schwester nicht alleine war. Mit tiefroten Wangen wich sie zurück und stürzte davon. Sofort griff Saldir nach dem winzigen Mistelzweig, um ihrer Schwester damit nachzulaufen.
Cinna fuhr sich durchs Haar, schüttelte ungläubig den Kopf und hörte Saldirs helle Stimme, den zärtlichen Versuch, die Schwester zu beschwichtigen, um sich wieder mit ihr zu versöhnen. Zögernd machte er sich auf den Weg zur Koppel. Während er ging, wurden seine Schritte weiter, beschwingter; unverhoffte Freude durchflutete ihn in der Erinnerung an den eingezäunten Hain,
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