Der Tristan-Betrug
angeliefert wurden; so konnte Metcalfe das Restaurant ungesehen betreten und zur Herrentoilette weitergehen, in der er sich vor wenigen Tagen mit Milliard getroffen hatte.
In der Toilette schien niemand zu sein, und er zögerte einen Augenblick, weil er nicht wusste, ob er sich gegen die Tür lehnen sollte, wie Milliard es getan hatte. Lieber nicht, sagte er sich dann; Milliard musste irgendwo aufgehalten worden sein.
Er machte rasch einen Rundgang durch den Raum und kontrollierte die WC-Kabinen. In der letzten Kabine sah er Milliard.
Genauer gesagt Milliards Schuhe und Hose. Die Tweedhose und die festen braunen Halbschuhe des Diplomaten waren unverkennbar; sie gehörten ohne Zweifel Amos Hilliard und nicht einem Russen.
Seltsam, dachte er. Warum saß Hilliard auf dem Klo, statt wie letztes Mal am Waschbecken zu warten?
»Amos!«, rief er halblaut. Keine Antwort. »Amos«, wiederholte er besorgt.
Dann stieß er die Klotür auf, die sich langsam nach innen öffnete.
Heiliger Jesus! Der Anblick, der sich ihm bot, erschreckte ihn, lahmte ihn, ließ ihn mit weichen Knien zusammensacken. Nein, nicht schon wieder! Amos Hilliard, der aus Mund und Nase blutete, hockte mit in den Nacken gelegtem Kopf auf dem WC, sodass seine dunkel blutunterlaufenen Augen blicklos zur Decke hinaufstarrten. Sein Hals war unterhalb des Kehlkopfs fast durchtrennt. Das Würgemal, eine rasiermesserschmale Furche, trat scharlachrot hervor und ließ auf einen dünnen, hochfesten Draht als Waffe schließen. Der Diplomat war garrottiert worden wie Scoop Martin und die Männer der Pariser Station.
Nein! Hilliard musste soeben, erst vor wenigen Minuten ermordet worden sein - er konnte noch nicht lange hier gewartet haben. Fünf Minuten? Vielleicht sogar weniger?
Metcalfe berührte Milliards dunkelrot angelaufenes Gesicht. Es hatte normale Körpertemperatur.
Der Mörder musste irgendwo in der Nähe sein.
Metcalfe war mit wenigen großen Schritten an der Toilettentür, aber dann zögerte er. Der Mörder konnte ihm draußen vor der Tür auflauern, wo das menschenleere Restaurant ihm reichlich Deckung bot; er konnte irgendwo im Schatten auf seine Chance warten, ihn zu überfallen.
Er riss die Tür auf, dass sie an die Wand knallte. Dabei blieb er seitlich an den Türrahmen gedrückt stehen und spähte nach draußen, um zu sehen, ob irgendwo eine Gestalt mit einer Garrotte in der Hand aus dem Schatten auftauchte. Nirgends eine Bewegung. Metcalfe war mit einem Satz auf dem Korridor, drehte sich einmal um die eigene Achse und blieb für den Notfall sprungbereit. Aber er sah niemanden. Trotzdem konnte der Mörder vor nicht mehr als zwei, drei Minuten verschwunden sein.
Metcalfe lief die nächste Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und wäre fast mit einem Kellner zusammengeprallt, der mit einem Tablett die Treppe heraufkam. Er musterte den schmächtigen kleinen Mann in Kellnerkleidung, schätzte seine Körperkräfte ab und gelangte zu dem Schluss, er komme als Täter nicht infrage.
Ein kalter Luftzug zeigte ihm, dass die Tür des Nebeneingangs vor wenigen Sekunden geöffnet worden war. Jemand war soeben hereingekommen oder hinausgegangen, obwohl dies nicht der Weg war, auf dem Metcalfe das Restaurant betreten hatte. Der Mörder. Das war zumindest denkbar. Hatte er das Gebäude durch diese Tür verlassen?
Metcalfe zog die Stahltür vorsichtig einen Spalt weit auf und achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Wenn der Mörder durch diese Tür verschwunden war und ganz normal weiterging, statt zu rennen - um auf der Straße keinen Verdacht zu erregen -, konnte er noch nicht weit sein. Er musste noch in Sichtweite sein. Falls auch nur die Spur einer Chance bestand, sich ein Überraschungsmoment zu sichern, wollte Metcalfe diese Chance nutzen. Er schlüpfte durch die schmale Öffnung, zog leise die Tür hinter sich zu und stellte erleichtert fest, dass er keinen Lärm gemacht hatte.
Er stand auf der Rückseite des Gebäudes. Große Blechtonnen quollen von übel riechenden Essensresten über. Er sah sich um, ohne jemanden zu sehen.
Wer auch immer Amos Milliard ermordet hatte, er war spurlos verschwunden.
*
Metcalfe wusste, dass er sofort untertauchen musste, aber wohin sollte er sich wenden? Ins Metropol konnte er nicht zurück. Tatsache war, dass er als Agent »verbrannt« war. Er war dabei beobachtet worden, wie er einen toten Briefkasten geleert hatte; der NKWD wusste, dass er in geheimdienstliche Aktivitäten verwickelt
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