Der Triumph der Heilerin.indd
schon lange keinen Lohn mehr bekommen hatten, im Stich gelassen und waren nach Hause gegangen. Der von Westminster benannte Vogt, der Annes Ländereien verwalten sollte, war an einem Sommermorgen plötzlich verschwunden. Gerüchten zufolge war er noch vor der Flucht des Königs zu seiner Familie nach London zurückgekehrt.
Mehr wussten die Leute von Wincanton nicht, außer den Gerüchten, die sich um den Krieg rankten. Und auch wenn die
Dörfler keine eigentlichen Kriegshandlungen erlebten, so hörten sie als fernen Donner das gelegentliche Tosen der Schlacht und die Schreie sterbender Männer und Pferde. Selbst die wandernden Kesselflicker, die jedes Jahr mit den Schwalben kamen und die neuesten Nachrichten mitbrachten, waren ausgeblieben. Das Dorf war von aller Welt verlassen.
Das vergangene Jahr war eine Katastrophe gewesen. Die Saatzeit war besonders kurz gewesen, weil nach einem langen Winter der Herbst vorzeitig mit Kälte und Nässe eingesetzt hatte. Dann wurden die Rinder von einer Viehseuche befallen, der auch die kostbaren Hausschweine zum Opfer fielen, bevor sie geschlachtet werden konnten. Auf diese Weise hatten die Leute kaum Vorräte für den ungewöhnlich harten Winter - nicht einmal ein Stückchen Salzfleisch oder einen Sack Rüben. Dann brach das Schweißfieber über das Dorf herein, dem die Säuglinge und die Alten erlagen. Und nun hatte noch eine Frühjahrsdürre den zarten Weizen verwelken lassen, der vor dem Wintereinbruch gepflanzt worden war. Das Dorf konnte kaum noch überleben.
Anne fasste einen Entschluss. Von dem Geld, das sie in Brügge gespart hatte, und von dem Erlös aus dem eiligen Verkauf einiger Vorräte ließ sie in der Stadt Taunton Weizen und fünfundzwanzig Fleischschafe kaufen, von denen einige sogar Lämmer hatten. Außerdem zwei schrecklich verwahrloste Milchkühe mit mächtigen Hörnern, die trächtig waren. Für sich selbst kaufte Anne ein Reitpferd, aber keinen Damenzelter, sondern ein richtiges Pferd, eine kräftige und lebhafte Stute mit breiter Brust und stämmigen Beinen. Sie gab ihr den Namen Morganne.
Wat, der einzige, der von den Männern aus Blessing House noch geblieben war, verschob seine Abreise zu seiner Herrschaft nach London. Er holte die Schafe ab und trieb sie ins Dorf, und er lieferte auch die Weizensäcke ab. Die Kühe sollten am nächsten Morgen von ihrem Vorbesitzer gebracht werden. »Eure Lady hat gesagt, ihr sollt so viele Schafe schlachten, wie ihr im Moment braucht, und den Rest für die Zucht nehmen. Die Kühe, die morgen kommen, sind für alle, aber besonders für die Kinder. Und wenn jemand von euch mir die Mühle zeigt, können wir noch das Getreide mahlen. Einen Teil davon soll ich zum Herrenhaus bringen, aber der Rest ist für euch.«
Stille folgte seiner Ankündigung. Aber dann begannen die Häusler, auch Meggan, zu tanzen, zu jubeln und zu schreien. An diesem Abend sollte es im Dorf wieder ein Festmahl geben -das erste seit vielen Jahren. Essen? Sie wollten essen, bis ihnen das Fett vom Kinn tropfte und die Bäuche wehtaten. Und so geschah es auch.
Anne lächelte. Der Wind wehte den Duft gebratenen Fleisches herüber. Sie stand auf den Zinnen ihres Gutshauses und sah unten im Tal, wo sich die Hütten drängten, den Rauch von den Feuern aufsteigen. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie die Leute sogar rufen hören. Ihre Leute. Glück, Verzückung und Schrecken hatten immer die gleiche Stimme, wenn sie im Übermaß vorhanden waren. Anne zog den Mantel fester um sich und wandte sich ab. Sie war froh, ihre Leute ernähren zu können, es war ihre Pflicht. Sie war glücklich, dass sie glücklich waren. Letzten Endes brauchte es nicht viel, das Leben eines Mannes oder einer Frau - oder eines Kindes - zu verändern.
Sie zitterte. Sie war überrascht, wie tief sie das Glück, das vom Tal zu ihr heraufschwappte, berührte. Wann hatte sie zuletzt solch ein Glück empfunden? Sie schloss ihre Augen und wollte das Wissen, die Wahrheit nicht zulassen. Aber wieso sollte sie sich selbst belügen? Edward Plantagenet war ihr Glück, trotz des Leids, das er in ihr Leben gebracht hatte. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Und, wenn sie wählen dürfte, was würde sie tun?
Dunkelheit hatte sich über das Tal gesenkt, und Anne konnte die Umrisse der Häuser nicht mehr erkennen. Die Schatten krochen über die Mauern ihres Guts. Bald wollte sie hinuntergehen in die erleuchtete Küche und sich zu ihrem Kind, ihrer Mutter und Wat setzen. Vielleicht würde sie am
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