Der Triumph der Heilerin.indd
Frieden gefährden. Es muss etwas geschehen, zum Wohl des Landes.
»Ihr habt eine Rivalin.«
Elizabeth Wydeville zischte wie eine drohende Katze. »Sagt mir etwas, was ich nicht schon weiß. Langsam denke ich, Ihr besitzt überhaupt keine Sehergabe.«
Die Königin grinste höhnisch, aber ihre Stimme bebte. Die Frau schien sie nicht zu hören. Sie war ganz auf ihre Wahrsagerschale konzentriert und nickte leicht, als lauschte sie Stimmen aus weiter Ferne. Elizabeth sah ihr gegen ihren Willen gebannt zu. Es geschah nicht oft, dass sie Menschen traf, die keine Angst vor ihrer Königin hatten.
»Wozu braucht Ihr dieses Ding?«
Das Mädchen lächelte. Sie war von Geburt an blind, und ihre milchweißen Augen richteten sich auf die Königin. Elizabeth bebte vor Abscheu.
»Weil ich auf andere Art sehe, Eure Majestät. Die Schale brauche ich, denn ich kann das Licht riechen, das sie mir sendet.«
»Das Licht riechen? Unsinn! Licht hat keinen Geruch.«
Lilliana schüttelte den Kopf. »Für mich schon. Und wenn ich ihn wahrnehme, rieche ich die Antworten auf meine Fragen.« Das blinde Mädchen legte schützend die Hände um die kostbare Glasschale. Sie war sehr alt. Die Königin hatte eine ähnliche nie zuvor gesehen. Das zerbrechliche Gefäß war von einem blassen Blaugrün, und seine Oberfläche war wolkig verschwommen, als hätte es seit undenklichen Zeiten im Meer oder in einem Fluss gelegen. Und so war es auch. Und wunderbarerweise war es vollständig erhalten.
Elizabeth Wydeville hatte bei allem Aberglauben keine Geduld für zeitraubende Schönfärberei. Sie brauchte Informationen und hatte gehört, dass diese Frau eine begnadete Seherin sei. »Sagt, was Ihr wisst. Beschreibt mir diese Frau.« Die Königin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das war eine Probe. Wenn das Mädchen sie bestand, konnte sie ihr auch sonst
»Da meine Augen nie so gesehen haben wie die Euren, Eure Majestät, mag meine Beschreibung etwas fremdartig klingen. Aber ich werde mich bemühen.« Schweigen füllte den Raum. Es war so still, dass die Königin das Rauschen ihres eigenen Bluts hörte. Es war unheimlich. Beunruhigend. Dann ...
»Hört Ihr das?«
Elizabeth zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Die blinden Augen fixierten sie wieder. Das Rauschen wurde lauter. Beide konnten es jetzt hören. Wasser, nicht Blut. Fließendes Wasser, das von weit oben ins Tal stürzte. Wieder hörten sie es: ein unaufhörliches, rollendes Brüllen.
Der Mund der Königin war wie ausgetrocknet. Sie zwang sich, etwas zu sagen. »Wasser? Warum höre ich Wasser?«
Lilliana hob ihre Hand und lauschte konzentriert und dann erhob sie ihre Stimme, um das Rauschen zu übertönen. »Ich sehe einen Wasserfall. Hell und glänzend. Und ich sehe Bronze ... etwas aus Bronze glitzert in der Sonne. Ich sehe einen Eisvogel. Er fliegt, und neben ihm fliegt ein Adler. Dort . noch ein Adler. Er greift den Eisvogel an. Die Adler kämpfen miteinander. Jetzt sehe ich einen Wanderfalken. Er fliegt zu dem Eisvogel, die Adler sind vom Kampf abgelenkt.«
Die Königin lehnte sich zurück. Ihre Augen waren kalt und gefühllos, aber ihre zitternden Hände waren ineinander verkrampft. »Ihr sprecht in Rätseln.«
Die Blinde schüttelte den Kopf. »Nein. Für mich ist das klar, und ich denke, für Euch ebenso.« Sie umfing die Glasschale mit ihren Händen, ihre trüben Augen starrten in das klare Wasser. »Das Haar ist bronzefarben, und die Augen sind wie bunte Federn, wie Edelsteine. Blaue Edelsteine, grüne Edelsteine. Ihr, Königin, seid ganz anders als sie. Aber ihre Rechte sind so stark wie die Euren.«
Elizabeth Wydeville schwankte zwischen Wut und Angst. »Ihr sprecht von Rechten, aber sie hat keine Rechte. Keine!«
»Doch wenn die Wahrheit bekannt wäre, würden die Leute das anders sehen. Sie hat so viel verloren ...«
»Und was habe ich verloren? Mein Gemahl musste ins Ausland fliehen und ich in den Schutz der Kirche. Und ich wusste nie, ob er zurückkommt oder ob ich selbst, mein neugeborener Sohn und meine Töchter im Schlaf ermordet werden. Habe nicht auch ich viel Leid erfahren?«
Das Mädchen sah zur Königin hin. »Alles, was Euer ist, ist Euch zurückgegeben worden. Ihr seid immer noch die Königin. Das ist Euer höchstes Ziel. Sie aber, Eure Rivalin, hat all dies aufgegeben, zum Wohl des Kindes und des Mannes. Sie hat alles verloren, was ihr gehören sollte. Nun hat sie einen kleinen Teil davon wieder zurückgewonnen. Vielleicht ist das genug. Und doch, sie müsste
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