Der Triumph der Heilerin.indd
der großen Diele herrschte ein lärmendes Durcheinander. Der Regen peitschte durch die offene Tür und riss den einzigen Wandteppich, den Anne noch besaß, aus seiner Befestigung. Anne kämpfte mit dem Teppich und gegen den Sturm. Ihre Röcke blähten sich, als sie versuchte, die Tür hinter dem durchnässten Mann zu schließen, der die ganze Zeit ge klopft hatte.
»Leif!«
»Ja, Lady. Gebt her, ich kann das machen.« Die Tür war groß, und der Wind war stark, aber Leif wurde mit beidem fertig. Die Tür schloss sich und sperrte den heulenden Sturm aus. Dann herrschte plötzlich Stille.
»Wissy? Wo bist du?«
Das Schreien ihres Kindes traf Anne wie ein Schlag. Sie griff nach einer Fackel und rannte zur Treppe. Fragen mussten warten.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte sie ihren Sohn. Er hockte wie ein zitterndes Häufchen Elend auf einer der Treppen, und auch wenn er seine Tränen zurückhielt, so erzählten sein bleiches Gesichtchen und seine entsetzt blickenden Augen die ganze Geschichte. Anne schob die Fackel in eine Wandhalterung, und als sie sich bückte, um ihren Sohn in die Arme zu schließen, stolperte sie fast über ihre Röcke.
»Ich wollte dich retten, aber dann dachte ich, du seist fort. Ich dachte, du hättest mich allein gelassen.« Der Donner krachte wieder, und Edward verbarg, außer sich vor Angst, sein Gesicht in Annes Kleid. »Mach, dass es weggeht! Es soll weggehen!«
Ein riesiger Schatten wuchs von unten herauf, erst der Kopf, ein formloser Fleck, dann ein mächtiger, dunkler Schattenriss. Edward sah hoch und kreischte: »Der Riese!« Die Treppenkehre hatte Leif Molnar verdeckt, und nun war er nur im Gegenlicht seiner Fackel zu erkennen. Ein Blitz fing den starren Blick des Knaben auf. In diesem Augenblick sah er aus wie tot, vor Schreck gestorben.
»Ist der Junge ...?« Leifs Herz krampfte sich zusammen. Er konnte das Wort nicht aussprechen.
»Nein! Er hat nur Angst vor Gewitter.«
Edward vergrub sich noch tiefer in Annes Arme. Sie wiegte ihren Sohn, sprach beruhigend auf ihn ein und nahm bewusst keine Notiz von dem, was sie in Leifs Augen las. »Du musst keine Angst haben, mein Schatz, niemand tut dir etwas.« In der Ferne grollte der Donner, das Gewitter verzog sich. »Siehst du, jetzt ist es fast vorbei. Schau, wir haben einen Gast. Deinen Freund Leif.«
Der Knabe wagte es nicht, ihn anzusehen, aber er fragte: »Wirklich kein Sturmriese?«
Der Däne sank auf ein Knie herab, so dass sein Kopf auf gleicher Höhe mit dem des Knaben war. »Hast du mich vergessen, Edward? Da wäre ich aber sehr traurig.«
Der kleine Edward richtete sich langsam auf und sah den Mann vor ihm ehrfürchtig an. »Bist du ein Riese, Leif? Du siehst aus wie ein Riese.«
Der Däne schüttelte den Kopf und lächelte, aber sein Blick haftete auf der Frau. »Überlasst mir den Jungen, Frau. Es gibt Dinge, die ich mit ihm besprechen muss. Es wird Zeit, dass er den Donner versteht und mit seiner Angst umgehen kann.«
Leif reichte Anne seine Fackel und breitete seine Arme aus. Edward ließ es zu, dass er ihn hochhob, und Anne ging mit beiden Fackeln hinter ihnen her. Das Licht warf die Schatten des Mannes und des Knaben in die große Diele.
Und dort wartete Deborah. Im Kamin prasselte ein Feuer, und die Flammen schlugen hoch in die dunkle Nacht.
Es war spät geworden. Der kleine Edward war auf Leifs Armen fast eingeschlafen. Er hatte eine lange, lange Geschichte gehört und hatte sich wieder beruhigt.
»Thor herrscht über den Donner, mein Junge. Und über den Sturm. Beides sind seine Diener. Du musst keine Angst haben, denn Thor wacht über mich. Und da ich über dich wache, ist er auch dein Beschützer.«
Da öffneten sich Edwards Augen doch wieder. »Aber du hast doch gesagt, er sei ein Kriegsgott?«
Leif verlagerte das Gewicht des Knaben, setzte ihn in seine
Armbeuge und schlug seinen Mantel um ihn. »Das ist richtig. Aber ich bin ein Kämpfer und du auch.«
Edward kicherte. »Ein Kämpfer? Ich?«
Leif nickte ernst. »Natürlich. Du hast heute Nacht Mut bewiesen. Ein Feigling wäre im Bett geblieben und hätte sich unter der Decke verkrochen, aber du warst tapfer. Du hast dich dem Sturm entgegengestellt, um deiner Tante zu helfen. Als Kämpfer ist es wichtig, die richtige Technik zu beherrschen. Das werde ich dir beibringen. Wenn du erwachsen bist, wirst du größer und stärker sein als ich.«
Edwards Augen waren weit aufgerissen. Er lachte - ein helles Lachen in dunkler Nacht. »Aber
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