Der Triumph der Heilerin.indd
wovor ich Angst habe, sondern was ich weiß.«
Edward runzelte missbilligend die Stirn. Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einer der Bänke. »Du sprichst heute Abend in Rätseln, mein süßes Mädchen. Was verursacht dir solche Pein?«
Einen Augenblick lang hatte Anne das Gefühl, als würden sie beobachtet. Sie sah zu dem Mund, der Nase und den tief liegenden Augen des Gottes vom Wasserfall hoch, wo sich die letzten Strahlen der Sonne spiegelten. Bedeutete seine Gegenwart etwas Gutes oder ...
»Man arbeitet gegen uns, Edward. Mächtige Menschen. Sie wollen, dass ich aus deinem Leben verschwinde.« Anne spürte, wie sich die Muskeln in den Armen und Schultern ihres Liebhabers anspannten.
»Mein Herz, bei Hof gibt es immer politische Machenschaften. Aber ich bin der König. Ich habe meinen Thron wiedererlangt, und das Land ist mein. Ich wüsste keinen, der mir das streitig machen könnte, nicht einmal Louis.« Er sprach mit plötzlicher Leidenschaft. »Ich brauche dich. Ich brauche die Liebe und den Frieden, den du mir bringst. Die Freude, die wir einander geben, ist etwas Kostbares. Und ich möchte, dass du hierbleibst, am Hof. Ich möchte, dass unser Sohn zusammen mit seinen Schwestern und mit seinem neuen Brüderchen aufwächst. Sie sind auch seine Familie. Die Königin wird sich mit der Zeit daran gewöhnen. Anderen Königen ist im Leben Glück beschert, warum nicht auch mir?« Es war ein Schrei aus tiefster Seele.
Anne schlang ihre Arme um Edward und küsste ihn. Sie streichelte seinen starren Leib, sie tröstete ihn, und schließlich erwiderte er sanft ihren Kuss. In diesem Augenblick glaubte sie, dass alles möglich war, alles möglich sein musste. Gemeinsam würden sie sich der Welt entgegenstellen. Sie wollte nicht an William Hastings oder Elizabeth Wydeville denken, nicht an die Schande, die Mätresse des Königs zu sein. Sie wollte dem vertrauen, was zwischen ihr und Edward bestand. Und sie wollte von einem Tag zum nächsten leben und möglichst viel Glück ergattern. Nur eines musste sie noch tun.
Anne setzte sich, und der König setzte sich neben sie und küsste sie liebevoll. Sie ergriff seine Hand, sie sah in seine Augen und dann stellte sie die Frage, die ihr Leben verändern sollte.
»Ich möchte gern meinen Vater kennenlernen. Zu Hause haben wir wenig erfahren, manche behaupteten, er säße im Tower. Ich möchte ihn um seinen Segen bitten.«
Edward senkte seinen Blick. Der wehmütige Ausdruck in ihrer Stimme traf ihn wie ein Messerstich.
»Ich weiß, dass er sehr krank ist, Edward, aber er soll wissen, dass ich am Leben bin. Ich habe gehört, dass er meine Mutter über alles liebte und dass er, als er von ihrem Tod - und meinem Tod - erfuhr, außer sich war.« Anne seufzte. »Seine Frau, die alte Königin Margaret, war für den Tod meiner Mutter verantwortlich. Hast du das gewusst?«
Edward wischte Anne die Tränen aus den Augen, aber er schwieg.
»Ich habe mein ganzes Leben lang ohne meinen Vater leben müssen. Es ist schwer, keine Familie zu haben. Meine Ziehmutter hat mich sehr geliebt, und dafür bin ich ihr sehr dankbar, aber trotzdem hätte ich mir einen Vater gewünscht, der mich führt. Ich möchte ihn unbedingt kennenlernen. Bitte erlaube, dass ich ihn besuche, Edward.«
Der König versuchte zu sprechen, doch dann sah er Anne an, und sie wusste, was er ihr sagen wollte. Der Schrei einer Nachtigall zerriss die Stille zwischen ihnen.
»Er ist tot, nicht wahr?«
Er wandte sein Gesicht ab. »Dein Vater, Henry von Lancaster .« Er konnte nicht weitersprechen und setzte von Neuem an. »Der alte König .«
Sie brachte die Frage kaum über die Lippen. »Hast du ihn getötet?«
Welch eine Qual. Eine Qual, nur daran zu denken. »Nein. Nicht ich, aber .«
Anne erhob sich mit steifen Gliedern. »Du hast ihn ermorden lassen.« Eine nüchterne Feststellung. Sie war sich völlig sicher, und doch sehnte sie sich danach, dass er es abstreiten würde. Und mit einem Mal brannte sie innerlich. Zorn, Qual und Furcht setzten ihr Herz in Flammen. Der Atem stockte ihr. »Sag, hat er gelitten? Hat er gelitten, Edward?«
»Nein!« Der König streckte seine Arme nach Anne aus, doch sie konnte nicht zulassen, dass er sie berührte.
Und dann sah sie die große Frau mit dem Umhang. Das Licht des aufgehenden Mondes fiel auf ihr Gesicht, ein Gesicht, das von verschlungenen Tätowierungen übersät war und kaum menschlich wirkte. Anne hob grüßend die Hand. Sie waren alte Freundinnen, alte
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