Der Triumph der Heilerin.indd
Fakten!
Erstens: Bruder Agonistes war fremd in Brügge und angeblich der Leibheiler des Königs von Frankreich.
Zweitens: Er war außerdem als ein heiliger Wohltäter bekannt, der sich in Paris selbstlos um die Ärmsten der Armen kümmerte.
Drittens: Jener Mönch war von Philippe de Commynes, dem Cousin des Herzogs, bei Hof eingeführt worden, hatte also einen hochrangigen Fürsprecher.
Viertens: Der demütige Mönch wusste den Namen von Anne de Bohun. Wie war das möglich, wenn nicht Gott selbst ihm die Worte in den Mund gelegt hatte?
Die einen schüttelten zweifelnd den Kopf, andere aber nickten beifällig. So gesehen klang alles ganz folgerichtig. Es konnte doch sein, dass Anne de Bohun wegen ihrer Verbindung mit dem Teufel Unglück über die Stadt gebracht hatte.
Annes Freunde wetterten dagegen: Unsinn! Aberglaube! Alle mögen Lady Anne, und sie ist in der Stadt, bei Hof und bei den Kaufleuten von Brügge hochangesehen. Neid auf ihr Glück und ihre Schönheit, gemeine Konkurrenten, die diesen bösartigen Klatsch verbreiteten, stünden hinter dieser Geschichte.
Aber viele ließen sich davon nicht überzeugen. Wenn die Leute in der Stadt sich über den eigenartigen Vorfall unterhielten, stellten sie fest, dass Anne schon immer etwas Geheimnisvolles an sich gehabt hatte, seitdem sie mit ihrem kleinen Neffen hierhergekommen war. Das war vor drei oder vier Jahren ge wesen.
Viele erinnerten sich daran, wie schnell und, ja, auf welch skandalöse Art sie reich geworden war, nachdem sie in den Handel eingestiegen war. Sie hatte aus eigenem Bemühen geschäftlichen Erfolg gehabt, obwohl die mächtige Organisation der englischen Merchant Adventurers in Brügge sich gegen sie gestellt hatte. Hatte es nicht schon damals Gerüchte um ihre Person gegeben? Gerüchte, dass Hexerei der Grund für ihren unnatürlichen, unweiblichen Erfolg war? Manch einer erinnerte sich an den Skandal und nickte eifrig.
Wurde damals nicht sogar gemunkelt, dass Karl, der charmante Herzog und Frauenliebhaber, aus eigennützigen Gründen die schöne Lady Anne geschützt hatte?
Wie eine Melodie floss das Wort »Wollust« durch die Stadt.
Andere wieder, die Anne de Bohun kein Unrecht tun wollten, sagten: »Die Zeit hat diese schändlichen Gerüchte Lügen gestraft. Unser Herzog hat unsere Herzogin geheiratet und ist seiner Gemahlin in Liebe zugetan.«
»Aber«, sagten manche, »unsere Herzogin war ursprünglich einmal die Lady Margaret von England. Und Louis von Frankreich möchte jetzt wegen ihres Bruders, Edward Plantagenet, dem einstigen König von England, Burgund einnehmen. Und der wurde von dem Mönch ebenfalls genannt, habt ihr das nicht gehört? Angeblich als Lady Annes Liebhaber.«
Ein alter Mann in einer Bierschänke bemerkte: »Jemand wollte Lady Anne doch umbringen, nur wenige Wochen vor der Hochzeit des Herzogs. Das war sehr merkwürdig.«
Und wieder ein anderer sagte: »Noch merkwürdiger war, dass sie beinahe starb, mit einem Fuß schon im Grab stand, und trotzdem überlebte. Die Frau von William Caxton hat Lady Anne auch schon als Hure bezeichnet. Und als Hexe. Und sie war eine sehr respektable Dame. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Viele aber, die beide Frauen kannten, gaben zu, dass Maud Caxton Anne de Bohun noch nie hatte leiden können und die junge Frau aus England immer abgelehnt hatte, weil, wie manche behaupteten, ihr Gemahl William, der auch den englischen Merchant Adventurers vorstand, ein Auge auf sie geworfen hatte.
Und so wurden die Gerüchte der Vergangenheit wieder aufgewärmt. War Anne de Bohun in Wirklichkeit eine Ehebrecherin und Hure? Hatte sie etwas mit Caxton gehabt? Oder mit dem Herzog?
Den ganzen Weihnachtstag über - die Erregung in der Stadt wurde immer größer, und der Skandal machte mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die Runde - schwieg die betroffene Frau, diese angebliche Hexe und Hure. Sie sagte nichts, und sie unternahm nichts. Sie überließ es ihrer Freundin, der Herzogin, sie zu verteidigen.
»Das ist absurd, Karl. Das seht Ihr doch auch?« Margaret von Burgund rang um Fassung und beobachtete, wie der Herzog im Zimmer auf und ab ging. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber sie wusste, dass sich hinter dieser Maske Unruhe und Zweifel verbargen.
»Der Mann ist verrückt. Wahnsinnig. Welcher Mystiker oder Prophet - wenn er wirklich ein GeschöpfGottes ist - würde mit solch giftiger Gehässigkeit reden? Gott bedeutet Liebe. Gerade zur Weihnachtszeit, als er als Kind zu uns kam.«
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