Der Trotzkopf
einer guten Stunde sind Sie dort, und daß Sie bei den lieben Menschen mit offnen Armen empfangen werden, dafür stehe ich ein.«
»Nein, nein! das thue ich nicht! Das würde ich nicht wagen!« rief Ilse ganz erschrocken. »Ich weiß ja gar nicht, ob man mich haben will! Ich kann doch nicht unbekannten Leuten in das Haus fallen!«
Es leuchtete so etwas vom alten Trotze dabei aus ihren Augen und die Oberlippe kräuselte sich in verdächtiger Weise. Frau Rat lächelte über den jugendlichen Ungestüm.
»Man will Sie haben, und fremde Leute sind es auch nicht, zu denen Sie kommen, kleine Ungeduldige,« sprach sie scherzhaft. »Der Landrat ist ein sehr guter Freund Ihres Vaters.«
Ilse konnte sich nicht dabei beruhigen, sie wurde sogar noch niedergeschlagener.
Als Frau Rat bemerkte, daß sie nur noch fünf Minuten beisammen sein würden, füllten sich ihre Augen mit Thränen.
»Gehen Sie einmal schnell um das Gebäude, dort können Sie die ganze Chaussee überblicken, die nach dem Rittergute führt. Vielleicht sehen Sie den Wagen kommen.«
Sie that, wie ihr geraten wurde. Im vollen Laufen öffnete sie das Saffiantäschchen und nahm Papas Bild heraus. »Es ist zwar doch vergeblich,« dachte sie, »aber ich will es für alle Fälle in die Hand nehmen.«
Kaum hatte sie sich entfernt, kaum war sie links um das Haus gegangen, als von der andern Seite desselben ein junger, schlanker Mann mit leichtem, elastischen Schritt eilig hervortrat. Sein Auge glitt suchend über den Perron, dann ging er dicht an dem Zuge entlang und spähte forschend in jedes Koupee. Frau Rat hatte ihn sofort entdeckt und ihre Züge verklärten sich, – der Suchende war niemand anders als der Sohn des Landrats. »Leo! Leo!« rief sie ihn an, »komm, schnell! Wo sind deine Eltern? Du suchst sie, nicht wahr? Ich bin mit ihr gefahren – sie ist ein reizendes, junges Mädchen! Frisch wie eine Waldblume, sage ich dir. Dort ist sie um das Haus gegangen!«
»Was für eine Waldblume meinst du, Tante Rat?« fragte der junge Mann etwas erstaunt und sah mit seinen offenen, klugen Augen die Angeredete, die sehr schnell und mit lebhaften Gesten gesprochen hatte, an. »Von wem sprichst du?«
»Von ihr – von ihr!« rief sie zurück. »Von Ilse, die ihr erwartet,« wollte sie eigentlich sagen, aber der Name fiel ihr im Augenblick nicht ein; das betäubende Läuten der Glocke, die das Zeichen zur Abfahrt gab, machte sie nervös und verwirrte sie, es kam noch hinzu, daß der junge Mann ihren Worten wenig Aufmerksamkeit schenkte und immer auf dem Sprunge stand, sie zu verlassen.
»Ich muß dich verlassen, Tante!« sagte er denn auch, »ich muß mich nach einem Kinde umsehen, das ich mit diesem Zuge erwarte –«
»Sie ist es! Sie ist es!« rief sie lebhaft, aber er hörte ihre Worte nicht mehr, sondern von neuem ging er suchend den Zug entlang.
»Haben Sie ein allein reisendes Kind bemerkt – und ist dasselbe vielleicht hier ausgestiegen?« fragte er einen Schaffner.
»Nein!« antwortete dieser und schwang sich auf seinen hohen Sitz hinauf, denn der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Als Frau Rat an ihm vorüberfuhr, rief sie ihm einige Worte zu, leider vergeblich, er verstand sie nicht.
Assessor Gontrau blieb stehen, etwas ratlos und nachdenklich. Der Oberamtmann Macket hatte seinen Vater gebeten, daß er sofort bei Ilses Ankunft telegraphieren möge, ob sie glücklich angekommen sei. Was sollte er jetzt thun? Es blieb ihm nichts andres übrig, als eine Depesche abzusenden mit den Worten: »Nicht angekommen!«
Eben im Begriffe, sich zu diesem Zwecke in das Bureau zu begeben, fiel sein Blick auf einen Brief, der auf der Erde dicht vor ihm lag. Er hob ihn auf und las die Aufschrift auf dem geöffneten Kouvert. Nicht wenig erstaunte er, als er die Adresse las: »Fräulein Ilse Macket,« – sonderbar! Der Schaffner und die Leute hier haben kein Kind aussteigen sehen und doch muß es angekommen sein!
»Wissen Sie nicht, wer den Brief verloren hat?« wandte er sich an eine Frau, die einen kleinen Obststand in der Nähe hatte.
»Gesehen habe ich es gerade nicht,« meinte die, »aber ein junges Fräulein mit Locken hat ihn gewiß mit aus der Tasche gezogen. Ich sah, daß sie etwas herausnahm. Die dort war es,« unterbrach sie sich plötzlich und zeigte auf Ilse, die um das ganze Haus gegangen war und von der entgegengesetzten Seite gerade hervortrat, als der Zug abfuhr.
Ihre alte Freundin grüßte noch einmal
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