Der Tuchhändler (German Edition)
genug, daß meine eigene Erinnerung an die Dinge wach werden konnte, die meinen persönlichen Alptraum darstellten, und sie war ebenso komplett wie die seine. Vielleicht hatte seine lange Einleitung dazu geführt: Ich hörte seine Worte, aber ich spürte meine eigene Hilflosigkeit wieder wie damals, als ich die toten Körper der Kinder unter dem Laken gesehen hatte, und irgendwo auf dem langen Weg seiner Geschichte vermischten seine Erinnerungen sich mit meinen, bis ich die Tränen auch hinter meinen Augen spürte und weinen wollte über das, was man ihm angetan hatte.
»Ich war dabei«, sagte er. »Von Anfang bis zum Ende war ich dabei. Ich ließ meinen Vater damals keinen Schritt weit aus den Augen, und so kam es, daß ich Zehnjähriger das ganze grausige Ende des Landshuter Bürgeraufstands aus einem Blickpunkt erlebte, als wäre ich einer der kirchlichen Würdenträger in den geschnitzten Kolonnaden des Chorgestühls während der Wandlung: Ich war mitten darin.«
»Wie kam das zustande?« fragte ich ihn, und er schnaubte.
»Das ist eine Geschichte für sich«, erwiderte er. »Mein Vater war bereits ein alter Mann gewesen, als er mich zeugte; alt jedenfalls für meine Mutter, die zwanzig Jahre jünger war als er. Er war ein ernster, verschlossener Mann, und zu jener Zeit war er noch verschlossener denn je – seine Verstrickung in die Vorbereitungen zu dem geplanten Aufstand nagten an ihm, und daß man Hans Krumenauer statt seiner damit beauftragt hatte, den Dom zu bauen und nach dessen Weggang einen Meister Hans aus Burghausen kommen ließ, demütigte ihn schon seit langem. Meine Mutter hingegen pflegte durchs Haus zu tanzen und am Abend in der Stube zu singen. Sie konnte ihn nicht erreichen, um ihre Fröhlichkeit mit ihm zu teilen, und er konnte ihr nicht erklären, wie wichtig ihm die Ernsthaftigkeit war, mit der er sein Leben bestritt. Er verachtete sie nicht; er tat alles für sie. Vielleicht fühlte sie sich in einem goldenen Käfig, oder vielleicht hatte sie nach einiger Zeit den Eindruck, er wolle ihre Zuneigung kaufen; vielleicht hatte ihre Heirat aber auch nur ganz einfach die Liebe nicht hervorgebracht, wie es im allgemeinen der Fall sein soll. Jedenfalls nahm sie sich einen Liebhaber, der ihrem Naturell entsprach und der ihre Bedürfnisse befriedigen konnte. Mein Vater wußte darüber nicht Bescheid; es wäre nichts Seltsames daran gewesen, wenn er es gewußt hätte – viele Eheleute hielten es so -, aber es wurde ihm niemals klar. Auch von den Freunden der Familie kam meiner Mutter niemand auf die Schliche. Schließlich war ich es, ihr Sohn, dem die ganze Wahrheit aufging, doch zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät. Ich denke, ich habe einiges von der Nachdenklichkeit meines Vaters geerbt, und ich benutzte mein Gehirn, um die kleinen Anzeichen der ehelichen Mißverhältnisse meiner Eltern zu durchforschen, bis ich von selbst auf die Lösung kam. Habe ich erwähnt, daß ich all die Schrecklichkeiten vielleicht hätte verhindern können, wenn ich meinem Vater nur gesagt hätte, was ich wußte? Ich tat es nicht. Wie soll ein zehnjähriger Junge seinem Vater erklären, daß seine Mutter sich einen jungen Stutzer als Geliebten hält? Nun, wie auch immer: ich verstand mich auch vor dieser Entdeckung nicht gut mit meiner Mutter; was ich immer gewußt hatte, war, daß sie meinen Vater nicht liebte, ja, nicht einmal respektierte. Daher wich ich meinem Vater kaum jemals von der Seite, wohl um ihm so zu beweisen, daß wenigstens einer aus seiner Familie ihm seine ganze Zuneigung entgegenbrachte. Vermutlich hungerte er danach: er schickte mich niemals weg, obwohl manche seiner Freunde ihn dazu drängten. ›Kinder plappern‹, sagten sie. ›Willst du riskieren, daß er uns die Meute des Herzogs auf den Hals hetzt? ‹ Mein Vater pflegte stets zu antworten: ›Mein Sohn plappert nicht‹, und er setzte sich jedesmal damit durch.«
»Habt Ihr jemals ›geplappert‹?« fragte ich.
»Dreimal in meinen Leben«, antwortete er. »Das erstemal, als ich meine Frau heiratete und ihr alles aus meiner Vergangenheit erzählen wollte; das zweite Mal vor meinen Freunden, von denen Ihr einige bereits kennengelernt habt; das dritte Mal – heute.«
Er schien es als ein Kompliment zu meinen; es mutete mich merkwürdig an, daß er es mir erteilte – letztlich mußte er mich noch immer für seinen Feind halten. Seine ganze Offenheit überraschte mich. Es mochte sein, daß die Wirrnisse innerhalb seiner Familie zu der
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