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Der Tuchhändler (German Edition)

Der Tuchhändler (German Edition)

Titel: Der Tuchhändler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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angenehm, was er zu berichten hatte. Ich hörte ihm zu und sah, daß seine Augen trocken blieben, doch ich konnte die Tränen aus seiner Stimme heraushören.
    »Es gibt keinen Grund, Euch die Geschichte nicht zu erzählen«, sagte er. »Sie hat mehr Schaden angerichtet dadurch, daß niemand sie erfahren hat. Es ist die Geschichte, wie ein jähzorniger Herrscher sich an seinen rechtschaffenen Bürgern gerächt hat.« Er legte die Stirn an das Fensterglas und spähte blicklos auf den Gassenboden fünf Meter unter uns hinab.
    »Wart Ihr damals mit dabei?« fragte ich. Ich wußte, daß er vom Aufstand sprach. Ich hatte beinahe erwartet, daß er seinen Bericht damit beginnen würde. Es war nur logisch: Die ganze Angelegenheit hatte damit begonnen.
    »Das interessiert Euch, nicht wahr?«
    »Natürlich.«
    »Erinnert Ihr Euch an ein einschneidendes Erlebnis, das Ihr hattet, als Ihr zehn Jahre alt wart? Ich nehme an, es würde Euch nach kurzem Nachdenken eines einfallen: Eine jüngere Schwester oder ein Bruder, die am Fieber starben; oder jemand vergiftete Euren Hund; oder Ihr wart mit Eurem Vater auf dem Markt und gerietet in eine Hinrichtung, und Euer Vater konnte Euch nicht schnell genug die Hand vor die Augen halten, als das Rad auf den Hals des Verbrechers niederfiel. Wenn Ihr es hervorruft, werdet Ihr bemerken, daß Eure Erinnerung Euch wie ein Traum vorkommt: Es gibt keine Mensehen, keine Häuser, keine Welt um das Vorkommnis herum – wie auf der Bühne eines Gauklers könnt Ihr nur die handelnden Personen erblicken und nicht, was um sie herum vorgeht. Wenn Ihr genauer nachdenkt, werdet Ihr feststellen, daß das Erlebnis selbst unwirklich erscheint und Euch das Gesicht des verstorbenen Geschwisterchens nicht mehr präsent ist oder wie der Hund geheißen hat oder das Aufseufzen, mit dem die Menge den Streich des Scharfrichters quittierte.« Er wandte sich nicht vom Fenster ab; er warf nur einen kurzen Blick zu mir herüber und preßte danach seine Stirn wieder an die Scheibe. Es interessierte ihn nicht, ob er tatsächlich eine Erinnerung in mir geweckt hatte; er hatte das Bild nur gewählt, um mir den Unterschied zu erklären.
    »Bei dem Erlebnis, an das ich mich aus meinem zehnten Lebensjahr erinnere, verhält es sich genau umgekehrt. Ich weiß noch, wie die Judensynagoge ausgesehen hat, an deren Stelle jetzt der Zehntstadel des Herzogs steht; ich kann mich an das lächerliche Bild erinnern, das der Neubau des Martinsdoms zu der Zeit abgab: Wie sich der Altarraum des neuen Doms über der alten Kirche erhob und rund um das alte Kirchenschiff bereits die Gräben für das Fundament des neuen Langhauses ausgehoben waren, so daß man nur über hölzerne Stege das Innere der Kirche erreichen konnte. Wo heute die Stadtresidenz des Herzogs liegt, befanden sich kleine Hütten von Flößern und Fischern; man hatte gerade begonnen, sie niederzureißen, damit der Herzog seine Stadtwohnung errichten konnte. Hier in der Ländgasse waren die meisten Stadel noch Wohnhäuser, und der Fluß jenseits der Stadtmauer lief näher an der Stadt entlang: Er änderte seinen Lauf erst später, als die Kiesaushübe für die Kirche und des Herzogs Residenz ihn in ein anderes Bett zwangen. Ich erinnere mich sogar noch an die Gerüche. Sie waren nicht sehr viel anders als heute: die dumpfe moosige Ausdünstung des Flusses an einem kalten Morgen, der beißende Rauch der Torf f euer, der Geruch nach frischem Holz und Steinstaub, der vom Kirchenbau herüberwehte, wenn der Wind richtig stand ...«
    Seine Stimme verklang, als seien ihm seine Gedanken leise davongelaufen, und er sah schweigend auf die gegenüberliegende Hausmauer. Ich hütete mich, ihn zu stören. Nach einer Weile fing er wieder von alleine an.
    »Ich wünschte mir schon oft, es verhielte sich nicht so; ich wünschte mir, daß die Erinnerungen eine nach der anderen verblassen und zuletzt nur noch die leere Bühne eines Gauklers zurücklassen würden, auf der sich ein paar Personen wie im Traum bewegen und scheinbar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.« Er griff nach oben und hämmerte gegen seine Schläfe. »Aber es ist hier, als wäre es eingebrannt. Ich erinnere mich niemals nur an einen Teil davon. Es ersteht alles komplett vor meinen Augen und würgt mich wieder vor Grauen, als wäre ich noch immer der zehnjährige Knabe. Versteht Ihr das?«
    Ich nickte, und er wandte den Kopf lange genug vom Fenster ab, um mir dabei zuzusehen. Er nickte ebenfalls; danach schwieg er lange

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