Der Tuchhändler (German Edition)
und öffnete sie einen Spalt. Er wechselte ein paar Worte mit jemandem, und mir wurde klar, daß dieser Jemand die ganze Zeit über draußen gestanden hatte. Man hatte uns – man hatte mich – überwacht. Reckel war ein vorsichtiger alter Fuchs.
Als er wieder zum Tisch zurückkam und sich setzte, fuhr er nahtlos zu erzählen fort.
»Der Herzog war im Irrtum. Er hatte dem Patriziat der Stadt einen schweren Schlag versetzt, das ist wahr, aber er hatte nicht damit gerechnet, daß sich der Widerstand in der Bürgergemeinde fortsetzen würde. Er hatte dem Stadtrat den Mut abgekauft, aber er rechnete niemals damit, daß die Handwerkerzünfte die Fackel des Widerstandes danach ergreifen würden. Es dauerte fast ein Jahr, bis sie es wagten, die Köpfe hochzustrecken, aber sie taten es.«
»Wie kam es dazu?« fragte ich.
»Wie es dazu kam, daß sich noch Männer fanden, die die Opposition fortführten?« fragte Reckel, und ich nickte.
»Ich kann nur raten«, sagte er. »Ich denke, Christian Leutgeb verstand es, den beinahe gelöschten Funken nochmals anzufachen. Er hatte hartnäckige Argumente: Vorher war es um eher abstrakte Dinge gegangen, die Verteilung gesellschaftlicher Macht, politisches Kalkül und ähnliches – jetzt aber standen die Bürger plötzlich vor der Situation, daß der Herzog mitten in ihre Gemeinde gegriffen und die Menschen gnadenlos herausgerissen hatte, die ihm nicht zur Nase standen. Vorher hatte er die ehrgeizigen Patrizier an ihrem Machthunger gepackt; jetzt packte er die einfachen Bürger an ihrem gerechten Zorn. Außerdem hatte er im Handstreich auch die Rechte der Zünfte eingeschränkt, und wenn es schon nicht der Gerechtigkeit wegen war, daß sie mittaten, so doch aus Wut über die Beschneidung ihres Wirkungskreises. Mein Vater, der der ersten Aktion völlig entgangen war – ein Umstand, den niemand von uns so recht fassen konnte, ich fuhr noch Wochen nach Weihnachten entsetzt zusammen, wenn jemand nach Einbruch der Dunkelheit gegen unsere Tür pochte – geriet jetzt unter dem Einfluß von Christian Leutgeb tiefer in die Verschwörung hinein. Leutgeb vermißte die Ruhe und Besonnenheit Martin von Aschs, und es war klar, daß er meinen Vater als dessen Nachfolger ansah. Ihre Freundschaft und die Tatsache, daß von Asch der Schwiegervater meines Vaters war, taten ein übriges, um ihn in dieser Ansicht zu bestärken.«
Reckel räusperte sich und zog ein Gesicht, das klarmachte, daß er Leutgebs Haltung noch heute verurteilte.
»So bedacht und überlegt mein Vater sonst war, in dieser Hinsicht hatte er einen blinden Fleck: Seine Freundschaft zu Leutgeb war unerschütterlich, und es wurde ihm niemals klar, wie sehr ihn dieser in seiner brennenden Leidenschaft ins Verderben zog. Meine Mutter konnte ihm keinen Rat geben; sie durchschaute die Situation ebensowenig, wenn auch aus anderen Gründen, und ich bin mir sicher, daß es ihr niemals vollends klar war, was sich im Kreis der Verschwörer überhaupt abspielte und worum es den Männern ging. Ihre Gedanken waren beim Tanz, beim Gesang und bei ihrem Liebhaber. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn mein Vater bei der ersten Verhaftungswelle mit dabei gewesen wäre, dann hätte sie die Gefahr ernst genommen, in die er sich begab und in die er uns hineinzog; so aber hielt sie die Treffen und geflüsterten Unterhaltungen und halblauten Drohungen gegen den Herzog für eine der üblichen Männerdummheiten, hinter der der laute Christian Leutgeb steckte – gegen den sie im übrigen eine ebenso starke Abneigung gefaßt hatte wie ich. Der Umstand, daß man ihren Vater verbannt hatte, erschütterte sie ebenfalls nicht tief genug. Sie paßte mit ihrem leichtherzigen Wesen ebensowenig zu ihm wie zu ihrem Mann, und zwischen ihnen war niemals viel Verständnis oder gar Liebe gewesen. Sie gab sehr viel auf den äußeren Glanz, und da man ihren Vater wegen einiger mißglückter Geschäfte hinter seinem Rücken verspottete, hatte sie ihn zu verachten begonnen. Ich zuletzt war ein Kind, noch nicht einmal ein Knabe, und ich erkannte die Situation ebensowenig wie meine Mutter.«
Er schauderte plötzlich und zog die Schultern hoch, als ob ihn friere. Er sah mich wieder mit einem der durchdringenden Blicke aus seinen hellen Augen an.
»Aber ich war der einzige, der den dunklen Schatten des Sensenmannes sehen konnte«, sagte er dumpf. »Seinen Schatten, der mächtig ausholte und mit seinem Streich auf unser Haus, unsere Familie und unser Leben zielte. Ich
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