Der Tuchhändler (German Edition)
darstellte.
»Mein Vater zog sich immer mehr in sich selbst zurück und brannte in seiner privaten Hölle: Sollte er der Verschwörung ein Ende machen und ewig als Versager und Feigling gebrandmarkt werden? Sollte er der Sicherheit seiner Familie den Vorrang geben?«
Ich wollte etwas einwenden und verbiß es mir; aber er bemerkte es und holte seinen Blick aus der Zimmerecke zurück und heftete ihn auf mich.
»Was?« fragte er. »Wundert Ihr Euch, warum er sich diese Frage überhaupt stellte?«
»Um ehrlich zu sein: ja. Ich hätte die Sicherheit meiner Familie niemals aufs Spiel gesetzt.«
»Habt Ihr nicht vorhin gesagt, Ihr hättet Euch dem de mütigenden Strafgericht des Herzogs und seines Kanzlers widersetzt?« fragte er spöttisch. »Ihr habt im ersten Augenblick nur an Euren verletzten Stolz gedacht, habe ich recht? Jetzt stellt Euch meinen Vater vor, der von seiner Frau zurückgestoßen wird, dessen Familienleben nicht die Urkunde wert ist, auf der es gesiegelt ist, und dem man die öffentliche Schande angetan hat, für das größte Bauprojekt der Stadt einen anderen Baumeister zu benennen. Wie sollte er nicht zweifeln, was zu tun war?«
Er wartete nicht ab, ob ich eine Antwort formulieren wollte. Er trank einen weiteren Schluck Wein und rollte ihn in seinem Mund hin und her; unwillkürlich nahm ich ebenfalls einen Schluck, obwohl mir die Schwere des Weins widerstand. Dann sprach er weiter.
»Mein Vater saß tagelang in der dunklen Stube und dachte nach. Ich selbst hockte tagelang auf dem Dachboden und zermarterte mir ebenfalls das Gehirn. Wart Ihr auf dem Dachboden?« fragte er unvermittelt.
»Was?«
»Der Dachboden. Wart Ihr auf dem Dachboden meines Hauses?«
»Nein; ich kam nur bis ins erste Obergeschoß.«
Er nickte langsam, als würde es ihn befriedigen.
»Der Dachboden war damals wie ein Weltreich für einen kleinen Jungen, wenn er von so nachdenklicher und träumerischer Natur war wie ich. Heute ist er verrottet und übersät von Vogel- und Mäusedreck, und der Bretterboden ist nicht sicher, aber damals war er eine weite, hohe Halle, unter deren First sich die kühne Konstruktion der Dachbalken schwang. Er war als Trockenboden und Speicher gedacht, aber es gab niemals so viel zu speichern in unserem Haus, daß er zur Gänze voll gewesen wäre. Es fanden sich immer geräumige Flecken zwischen den Arbeitsgeräten meines Vaters, zwischen alten Decken, Truhen und Getreidesäcken, Flächen, auf denen man sich ausstrecken und den Staubgeruch und den Duft des Harzes aufnehmen konnte. Wenn ich Hunger bekam, schnitt ich mir mit meinem kleinen Messer eine dünne Scheibe Räucherfleisch von den Zenterlingen ab, die dort oben aufgehängt waren, und obwohl die Küchenmägde bestimmt errieten, welches Mäuschen sich an den Vorräten gütlich getan hatte, verrieten sie mich doch nie.«
Er lächelte beinahe friedlich, aber es hielt nicht lange vor.
»Zu jener Zeit benutzte ich den Speicher, um der Realität zu entfliehen. Ich hatte gerade entdeckt, daß meine Mutter es mit einem Speichellecker von Herzog Heinrichs Hof trieb, und ich lag dort oben und vergaß für Tage die geplante Verschwörung und wünschte abwechselnd meiner Mutter, ihrem Liebhaber und mir selbst den Tod.«
»Das ist ja unglaublich«, stieß ich verblüfft hervor. »Ein Höfling des Herzogs. Seid Ihr Euch sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher«, brummte er heiser. »Ich weiß sogar seinen Namen; ich werde ihn niemals vergessen: Ulrich Ebran von Wildenberg. Ich weiß nicht, was er im Gefolge des Herzogs zu suchen hatte: Vielleicht hielt er den aufgeblasenen Rittern den Hintern hin, damit sie ihre Stiefel daran abputzen konnten.«
Ich war schockiert, ihn plötzlich so sprechen zu hören; sein Haß nach über sechzig Jahren war ungebrochen. Er atmete tief ein und beruhigte sich mühsam.
»Wie hatte Eure Mutter diesen Mann kennengelernt?«
»Das habe ich niemals herausbekommen. Manchmal neige ich dazu zu glauben, nicht sie habe ihn, sondern er sie gefunden. Vielleicht hat der Herzog oder eher sein Kanzler ihn auf meine Mutter angesetzt; daß sie nicht wenigstens einen unbestimmten Verdacht gegen meinen Vater gehegt haben sollen, scheint mir fast unglaubwürdig. Andererseits war meine Mutter eine Schönheit und überstrahlte jede Gesellschaft mit ihrer Anmut und ihrer Fröhlichkeit. Jedenfalls lag ich auf dem Dachboden, weinte in meine Ellbeuge hinein, haßte meine Mutter aus tiefstem Herzen und fragte mich, ob und wie ich es meinem
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