Der Tuchhändler (German Edition)
wußte, daß ich, indem ich jetzt versuchte, Reckel zum Reden zu zwingen, möglicherweise alles verdarb. Er würde sich nicht unter Druck setzen lassen.
Herr, sende mir eine andere Idee.
Aber der Herr hatte selbst keinen besseren Einfall, oder er schwieg, wie er damals nach Marias Tod geschwiegen hatte.
Ich wußte noch nicht einmal, ob es sich lohnte. Löw mochte längst tot sein,
– auf keinen Fall, er lebt, er lebt! und ich verärgerte oder verschreckte Reckel so sehr, daß er Hals über Kopf aus Landshut floh und mir endgültig jede Möglichkeit nahm, den Mörder zu finden und vielleicht den Kaiser, die Stadt oder das Herzogtum zu retten oder wenigstens die Hochzeit. Aber ich sah keine andere Chance, als es zu versuchen. Ich sagte mir, wenn wir nur schnell genug wären, könnten wir den Sohn des Apothekers retten.
Aber selbst wenn Reckel bereit ist, mit dir zusammenzuarbeiten, dachte ich, so löst das nur einen kleinen Teil des Problems. Moniwid mochte ihm glauben; er mochte sogar seine Ritter ausschwärmen lassen und jeden Busch rund um die Stadt untersuchen; Löw aber war seit zwei Nächten verschwunden, und der Himmel mochte wissen, wo er sich jetzt befand. Selbst in unmittelbarer Nähe zur Stadt gab es so viele Verstecke in den Auwäldern, daß man ein Rudel von Schweißhunden gebraucht hätte, um auch nur eine verirrte Kuh zu finden. Wenn er gefesselt irgendwo in einem Dickicht lag, konnte man fünfzig Fuß entfernt vorübergehen, ohne ihn zu bemerken.
Einen Aspekt hatte ich immer vor mir hergeschoben: Was, wenn der junge Mann ohne jede Fremdeinwirkung einfach im Sumpf ertrunken war? Niemals, dachte ich, niemals, ein so sinnloser Tod, ein so idiotischer Tod ist nicht für ihn vorbestimmt, und außerdem – warum hätte er des Nachts durch die Sümpfe reiten sollen? Es gab keinen Grund dafür; außer dem, daß er Angst hatte vor etwaigen Verfolgern, so wie ich selbst vor ein paar Tagen den Umweg über die Sümpfe vorgezogen hatte. Moniwid hatte zwar bemerkt, daß kein Gaul im Moor ertrinken würde, und Löws Reittier war nicht zurückgekommen – aber wer garantierte, daß das Pferd, wäre Löw herabgefallen, sofort nach Hause liefe? Es konnte gleichwohl im Wald umherstapfen und nach Futter suchen.
Vielleicht war er auch gerade eben zu Hause angekommen. Ich malte mir aus, er habe in der Stadt ein Liebchen, und nach dem Besuch bei mir und vor allem nach seiner Zeugenschaft des Mordes sei er bei ihr aufgekreuzt, um für sein Erlebnis Trost zu suchen. Ein junger Mann, der seinem Mädchen gegenüber einmal nicht kühl und herablassend, sondern trostbedürftig und hilflos erscheint, ein junges Mädchen, das rettungslos in diesen jungen Mann verliebt ist und plötzlich erkennt, daß er gar nicht so grob ist, wie er sich sonst gibt – welche bessere Konstellation kann man sich für ein unverhofftes Schäferstündchen wünschen? Der Gedanke an die wartende Familie daheim mochte einem dabei schon einmal aus dem Kopf entschwinden, selbst wenn man so gewissenhaft war wie Daniel Löw. Und wenn die Eltern des Mädchens in die Hochzeitsvorbereitungen involviert waren, konnte es auch sein, daß sie ihre Aufsicht über ihre Tochter lockerten und ihr zärtliches Zusammensein mit einem jungen Verehrer nicht auffiel.
Der Gedanke war plötzlich so stark, so befreiend, daß ich fast wußte , es verhielt sich eben so. Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, an Leutgebs Haus vorbei zu Löws Apotheke zu laufen. Aber es war absurd. Man konnte sich vorstellen, daß eine geheime Liebelei eine Nacht lang unentdeckt blieb, aber zwei Nächte hintereinander? Und was geschah während der Tage? Schliefen die Liebenden erschöpft in irgendeiner geheimen Kammer? Zuletzt stellte ich mir vor, wie mich die vor Angst gelähmte Familie des Apothekers anstarren würde, wenn ich die Tür aufriß und fragte, ob Daniel schon nach Hause gekommen sei. Ich wandte mich um und schlug mit aller Kraft gegen die Haustüre Leutgebs.
Die Zeit verstrich, ohne daß sich etwas regte oder mir jemand öffnete. Ich trat zurück und schaute nach oben. Im ersten Moment registrierte ich nur, daß etwas anders war als sonst, dann bemerkte ich, daß man Läden vor die Fenster im ersten Stock gestellt hatte, und mein Herz krampfte sich zusammen. Das Haus machte plötzlich einen so unbelebten Eindruck, daß es ebensogut hätte verfallen sein können wie das Haus Dietrich Reckeis ein paar Dutzend Fuß weiter.
Mit dem Einbruch der Dämmerung war es kalt
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