Der Tuchhändler (German Edition)
rauh.
Löw und der Totengräber betraten den Raum und nickten mir zu. Ich gab dem jungen Mann den Schlüssel. »Bitte sperrt ab; ich will vermeiden, daß zufällig jemand zu Euch hineinplatzt.«
Er nickte nochmals. Ich schloß die Tür hinter mir zu und atmete tief ein. Einen Augenblick stand ich noch vor der geschlossenen Tür; das Geräusch des Schlüssels im Schloß ließ mich hochschrecken. Ich ging steifbeinig und voller Nervosität zurück zur Stube.
Die Zeit dort wurde mir lang. Ich konnte nicht verhindern, daß mein aufgewühlter Geist auf Wanderschaft ging, und mir fiel ein, daß ich so auf die Geburt meiner beiden Töchter gewartet hatte: allein in der Stube meines damals noch kleinen Stadthauses neben dem bischöflichen Palast in Augsburg. Aus dem Warten damals waren zwei aus Leibeskräften krähende junge Leben hervorgegangen; heute wartete ich darauf, daß der Tod eines anderen jungen Lebens beurkundet wurde. Der Gedanke daran brachte mir die Tote noch ein Stück näher, und die Ironie, daß sich die polnische Gräfin im Leben nicht einmal nach mir umgedreht haben würde, nahm nichts von der Grimmigkeit hinweg. Ich dachte weiter: Die Geburt meines Sohnes Daniel hatte ich ebenfalls voller Aufregung erwartet, aber es war weniger des Geburtsvorgangs wegen gewesen als aufgrund der eben entbrannten Fehde zwischen Herzog Ludwig und Markgraf Albrecht von Brandenburg; der Bischof hatte mich informiert, daß er mich als seinen Assistenten wünschte, um die Bedingungen für einen Waffenstillstand oder gar einen Frieden zu verhandeln, und ich brannte vor Neugier auf diesen Auftrag. Bei der vierten Geburt schließlich, die unter meinem Dach stattfand, war ich vollkommen gelassen gewesen; es schien mir nur ein weiterer, alltäglich gewordener Vorgang zu sein und Marias Schwäche und Blässe in den letzten Wochen vor der Niederkunft lediglich ein Zeichen, daß für sie das Alter gekommen war, in dem sie keine Kinder mehr erwarten sollte. Ich hatte mich nicht weiter darum bekümmert; hätte ich es getan, vielleicht wäre alles anders gekommen. Gott straft dann, wenn man nicht darauf gefaßt ist.
Die Stubentür öffnete sich langsam, und ich sah auf und erwartete, meinen Verwalter hereinkommen zu sehen. Statt dessen stand der Totengräber auf der Schwelle.
»Würdet Ihr bitte mitkommen?« fragte er. Er hatte eine Stimme, die zu seiner Erscheinung paßte: präzise und ohne Gefühlsschwankungen. Es war nicht die Stimme, um kommendes Unheil zu verkünden, aber ich wußte dennoch, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Ich wollte aufstehen und fand im ersten Moment keine Kraft dafür.
»Was ist geschehen?« fragte ich schwach.
»Er wird es Euch mitteilen. Bitte kommt.«
Ich kroch hinter dem Tisch hervor und folgte ihm mit schweren Beinen. Was immer mir der Apothekerssohn sagen wollte, ich hatte keine Lust, es zu hören. Ich wollte, daß die Tote endlich unter die Erde gebracht wurde, damit ich wieder klar denken konnte.
Löw erwartete mich mit ernstem Gesicht. Als ich in den Lagerraum trat, schloß er die Tür hinter mir ab. Ich versuchte zu vermeiden, lange in die Richtung der Toten zu blicken; ich sah den Schimmer ihrer Haut im Sonnenlicht und das zerknüllte Tuch, das zu Füßen der Bahre auf dem Boden lag, bevor ich meine Augen auf Löws Gesicht richtete. Er hatte eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Ich fühlte eine leichte Übelkeit, während ich seine Auskunft erwartete. Er setzte zum Sprechen an, unterbrach sich und begann von neuem. Was er sagte, traf mich so unvorbereitet, daß ich es im ersten Augenblick nicht einmal verstand.
»Die Frau ist nicht vergewaltigt worden«, sagte er.
»Was sagt Ihr?« rief ich.
»Man hat sie nicht vergewaltigt«, wiederholte er. »Nicht in dem Sinne, den man diesem Wort gemeinhin hinterlegt. Man hat den Leichnam berührt und ihm Verletzungen zugefügt, die auf einen Koitus hindeuten, und ohne Zweifel bedeutet das die Schändung des Körpers. Aber ich wiederhole: des Körpers. Es fand kein aufgezwungener Verkehr statt, und die Frau war schon tot, bevor man sich mit ihrem Leib befaßte.«
Ich fühlte mich schwindlig; ich befürchtete, daß ich den Sinn seiner Worte nicht ganz erfaßte. Ich warf einen Blick auf den Totengräber, der mit verschränkten Armen neben uns stand, doch seine Augen waren unbeteiligt in die Ferne gerichtet.
»Wie meint Ihr das?«
Er atmete tief ein, dann stieß er den Atem aus. Mit einer brüsken Bewegung marschierte er um mich
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