Der Tuchhändler (German Edition)
unterwegs sein. Seit gestern bin ich ein wenig nervös, um die Wahrheit zu sagen.«
»Ich habe keine rechte Lust, alleine in die Andacht zu gehen. Komm doch mit.«
»Ich verzichte«, erwiderte ich mit einem schiefen Lächeln.
Altdorfer erhob sich und schüttelte den Kopf. »Man möchte nicht glauben, daß dieser Heide einmal ein eifriger Diener der Kirche war.«
»Laiendiener«, sagte ich. Er nickte und lächelte schwach. Mit zwei angefeuchteten Fingern löschte er die Kerze aus.
»Gehen wir«, meinte er und stapfte aus dem Raum. Unter dem Eingangsportal blieb er stehen und spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Regen.
»Es ist noch recht hell«, sagte er über die Schulter zu mir. »Du könntest mich wenigstens ein paar Schritte begleiten.«
»Also gut«, seufzte ich und dachte daran, daß ich, sollte die Dunkelheit mich einholen, immer noch einen Umweg über das Ländtor und das weite Flutland der Pfettrach machen konnte, um mich meinem Hof von hinten zu nähern. Kaum jemand würde vermuten, daß ich diesen Weg nähme; er führte an ein paar verstreut liegenden Pachthöfen vorbei und durch nur teilweise trockengelegtes Marschland. Niemand war dort freiwillig bei Nacht unterwegs; man wollte Irrlichter gesehen haben, die die Reisenden in den Sumpf lockten. Irrlichter jedoch waren das, was mir im Augenblick die geringste Sorge bereitete.
Ich sagte zu den Wachen: »Ich lasse das Pferd hier; ich komme gleich zurück und hole es ab.« Sie nickten gleichmütig.
Altdorfer wünschte den Wappnern eine gute Nacht und setzte sich in Bewegung. Vom Rathaus führte die Grasgasse direkt hinüber zur Neustadt, die schon bei Tage deutlich weniger belebt war als die Altstadt und jetzt, bei hereinbrechender Dunkelheit und dieser Witterung, weit, düster und verlassen dalag. Hinter der herzoglichen Münze am Südende der Neustadt erhob sich die steile Flanke des Lenghart, bekrönt vom Burgsöller und den Maueranlagen, die sich bis herunter zu den Gebäuden des Franziskanerklosters zogen; sonst ein massiger Schatten, der sich über den Bürgerhäusern in die Höhe reckte, jetzt unsichtbar hinter den feinen Schleiern des allgegenwärtigen Nieselregens.
Noch auf der Höhe der Fleischbänke hinter dem Rathaus hatte uns eine Gruppe von Männern überholt, die eiligen Schrittes ebenfalls zur Neustadt strebten und uns hastig grüßten; ich hörte, wie einer von ihnen sich laut ärgerte, daß sie die Kirche vor Meßbeginn nicht mehr erreichen würden. Altdorfer nahm diesen Umstand gelassen hin. Ich hatte den Eindruck, daß er froh war, sich an der frischen Luft bewegen zu können. Als wir in die Neustadt kamen, war die Gruppe bereits verschwunden, vermutlich angespornt durch die Befürchtung, in der Kirche nur mehr die Plätze zu bekommen, an denen es sich weder bequem stehen noch unbemerkt dösen ließ.
Im Gegensatz zur Altstadt war die Neustadt nicht gepflastert. Der festgetretene Boden wies bereits die ersten Furchen und weichen Stellen auf; bald würde er sich, wie jeden Herbst, in knöcheltiefen Schlamm verwandeln, den nur ein selten auftretender Frost zu knochenbrecherischen Formen erstarren ließ und der sich erst im Verlauf des darauffolgenden Frühlings langsam und widerwillig wieder ebnete. Wir marschierten über die Straße und in die breite Gasse zwischen Lagerhäusern und Stadeln hinein, die zugleich die Zufahrt zum Kloster der Dominikaner bildete. An dem freien Platz, der vor dem Kloster lag, öffneten sich mehrere Gassen in alle Himmelsrichtungen; eine davon führte auch zur Kirche des heiligen Jobst, die sich inmitten der großzügigen Freyung erhob. Der Weg über das Dominikanerkloster war die kürzeste Verbindung vom Rathaus zur Kirche.
Sie hatten ihren Überfall gut geplant; wahrscheinlich waren sie mir schon gefolgt, als ich mich zu Hanns Altdorf er ins Rathaus begeben hatte. Da sie unser Ziel nicht gekannt hatten, waren sie hinter uns hergelaufen, bis ihnen klar wurde, daß wir zur Kirche strebten, hatten uns bei den Fleischbänken überholt und sich in der Neustadt getrennt, um beide möglichen Wege zur Kirche – den über das Dominikanerkloster und den über das Südende der Neustadt und das Franziskanerkloster – abzuriegeln. Es sprach für ihre Geschicklichkeit, daß weder Hanns noch ich etwas ahnten von ihrem Hinterhalt. Die Gruppe, die uns überholt hatte, hatten wir völlig arglos betrachtet; besonders ich, der ich mit einem weiteren Überfall gerechnet hatte, erwartete sie weder um diese Zeit
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