Der Turm der Könige
alles an einem Platz lag. Die nächsten Tage verbrachten sie damit, Geschirr, Krüge, Wanduhren, Bücher und das Porträt von Doña Julia nach oben zu schaffen. Dieses Porträt, auf dem Guiomar sie nie richtig erkannt hatte. In Samt und Seide gekleidet, hielt ihre Großmutter darauf einen Rosenkranz aus Perlmutt in der Hand, das Haar zu einem verschlungenen, mit Perlen durchwirkten Knoten aufgesteckt, den Hund Turca auf dem Schoß, der Blick wie bei einer Madonna von Murillo. Julia war nun schon eine ganze Weile tot, aber Guiomar brauchte nur die Augen zu schließen, um sie wieder in ihrer ganzen Schönheit vor sich zu sehen: groß, schlank, mit ihrem langen Schwanenhals und ihrem strengen Blick, der zeigte, dass sie daran gewöhnt war, sich in einer Männerwelt zu behaupten. In Guiomars Erinnerung hatte sie eher Ähnlichkeit mit Tizians Salome.
Als sich in den unteren Stockwerken nichts mehr befand, das in Sicherheit zu bringen sich lohnte, schlug Candela Guiomar vor, gemeinsam nach Carmona zu fahren und zu versuchen, die Enteignung des Landguts abzuwenden. Beim Abzug der Franzosen hatte sie befürchtet, mit ihrem Theater könne es bergab gehen, aber erstaunlicherweise war das genaue Gegenteil der Fall. Mit der Rückkehr Ferdinands VII . war Candela zu einer Art Symbolfigur der starken, selbstbewussten Spanierin geworden, die sich dem ausländischen Feind entgegenstellte und ihn mit ihrer Anmut, ihrer Grazie und ihrem Augenaufschlag betörte.
»Es gibt kein einträglicheres Geschäft als die Unterhaltung und keine besseren Kunden als die Reichen, ganz gleich welcher Weltanschauung. Ich habe sie in der Tasche, meine Süße«, erklärte sie ihr. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele einflussreiche Männer den Boden küssen, auf dem ich gehe. Sei unbesorgt. Wir fahren zusammen nach Carmona, und ich werde ein paar Hebel in Bewegung setzen. Wer weiß, vielleicht treffen wir sogar deinen Marquis.« Sie küsste ihr Patenkind auf die Stirn. »Du wirst schon sehen, jetzt kann es nur noch aufwärtsgehen. Ich weiß, wie das ist. Vertrau mir. Alles wird gut.«
Sie hatten vor, schon am frühen Morgen aufzubrechen, aber bevor sie sich ans Packen machte, ging Guiomar zu Monsieur Verdoux, um ihm zu sagen, was sie vorhatten, und ihn um einen Gefallen zu bitten. Sie wollte, dass er in der Druckerei wohnte, solange sie weg war.
»Ich wäre ruhiger, wenn du auf das Haus und die Druckerei aufpassen würdest«, sagte sie. »Es ist nicht so, dass ich der Köchin, Dolores oder Cristo nicht vertrauen würde, aber …«
»Keine Sorge,
chérie
«, unterbrach er, charmant wie immer. »Jede Bitte von dir ist mir ein Befehl.«
Guiomar warf sich in seine Arme. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Wäre mein Herz nicht schon an Ventura Marqués vergeben, ich würde dich überreden, mir einen Antrag zu machen«, scherzte sie.
»Ventura Marqués! Was für ein Name für einen Banditen!«, sagte Monsieur Verdoux lachend, um sich dann von ihr zu verabschieden.
***
CARMONA WAR KLEIN, und so sprach sich sofort herum, dass die Tochter der Montenegros gekommen sei, um auf dem Landgut
Las Jácaras
nach dem Rechten zu sehen. In der zweiten Nacht nach ihrer Ankunft glaubte sie, einen Pfiff zu hören. Ihr blieb beinahe das Herz stehen. So oft hatte sie davon geträumt, dass sie jetzt nicht sicher war, ob es Wirklichkeit war.
Guiomar schlug die Augen auf und hielt die Luft an. Und dann hörte sie den vertrauten Pfiff noch einmal, diesmal ganz deutlich. Sie sprang aus dem Bett und riss das Fenster auf. Dort unten stand er, unter dem Zitronenbaum, und sah zu ihr herauf. Guiomar rannte barfuß die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und warf sich schluchzend in seine Arme. Dann ließ sie ihn herein und überschüttete ihn mit Fragen, bot ihm etwas zu essen an, beteuerte, wie sehr sie ihn liebe, wie sehr sie ihn vermisst habe … Für einen kurzen Moment überlegte sie, ihn zu sich auf ihr Zimmer zu bitten und ihn bis zum Morgengrauen zu lieben wie in alten Zeiten. Doch dann beschloss sie, diesmal alles richtig zu machen, und weckte Candela, um ihn ihr vorzustellen.
Ventura blieb eine Woche. Zum ersten Mal hatten sie ein wenig Zeit, sich genauer kennenzulernen. Sie erfuhren, was es hieß, gemeinsam zu essen, gemeinsam einzuschlafen und gemeinsam aufzuwachen. Candela war es zum Glück egal, dass sie sich wie Mann und Frau benahmen, ohne vor dem Traualtar gestanden zu haben. Sie hatte immer erwartet, dass man sie in
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