Der Turm der Könige
und reckten Knüppel in die Höhe, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Erst jetzt fiel Monsieur Verdoux auf, dass sie aufgehört hatten zu schreien. Es war totenstill.
»Was ist los, Freunde?«, fragte er und versuchte, ruhig zu erscheinen, sein charmantes Lächeln wie eingefroren auf den Lippen. »Glaubt ihr, von einem alten Mann wie mir ginge Gefahr aus?«
Er sah den ersten Schlag nicht kommen. Er spürte lediglich einen dumpfen Schmerz im Nacken, der ihn auf einen Stuhl sinken ließ.
»Verrecken sollst du, verfluchter Franzose!«, hörte er eine Frau sagen.
Als einer ihm ins Gesicht spuckte, schloss er die Augen. Er hörte, wie der Pöbel johlte. Jemand zerrte den alten Mann hoch und packte ihn von hinten. Sie hielten ihn an den Armen fest, obwohl es nicht nötig war, weil er keinen Widerstand leistete. Ein Mann drosch mit der Faust auf ihn ein, bis er keine Kraft mehr hatte. Ein anderer löste ihn ab, und dann wieder ein anderer und wieder ein anderer, bis Monsieur Verdoux zusammensackte wie eine kaputte Puppe.
Als Guiomar und Candela in Sevilla eintrafen, war alles schon vorbei. Von den Nachbarn erfuhren sie, dass ein entfesselter Mob die Druckerei habe plündern wollen, weil es den Anschein hatte, das Gebäude stünde leer. Unglücklicherweise seien jedoch Monsieur Verdoux und Cristo im Haus gewesen. Sie hatten den französischen Lehrer auf dem Marmorboden im Patio gefunden. Er hatte mehrere gebrochene Rippen, eine Platzwunde am Auge und blaue Flecken am ganzen Körper, ganz abgesehen von den Kopfverletzungen, die den Ärzten große Sorgen machten.
Sie hatten ihn ins Spital von Santa María del Buen Suceso gebracht, aber der Franzose hatte nach der Behandlung darauf bestanden, nach Hause zu gehen, obwohl die Ärzte ihm davon abgeraten hatten. Noch schlimmer aber war es um den Werkstattmeister bestellt. Offenbar hatten die Plünderer Cristo in seinem Zimmer im Souterrain überrascht und ihm den Schädel eingeschlagen. Man konnte nichts mehr für ihn tun. Als die Nachbarn ihn fanden, lag er in seinem eigenen Blut, genau wie vor vielen Jahren seine Schwester Julita.
Als Guiomar erfuhr, was passiert war, eilte sie zum Haus ihres Lehrers. Sie wollte ihn unbedingt sehen und ihm zur Seite stehen. Darüber hinaus konnte sie es kaum erwarten, mit der einzigen Person über das
Buch ohne Namen
zu sprechen, die diese faszinierende Geschichte aus der Zeit ihres Großvaters León noch miterlebt hatte.
Die Zugehfrau, ein einfaches junges Mädchen, das Guiomar noch nie zuvor gesehen hatte, öffnete die Tür und bedeutete ihr mit einer leichten Kopfbewegung, ihr zu folgen. Die beiden Frauen gingen schweigend einen schier endlosen Korridor entlang, dessen gewölbte Decke mit pausbäckigen Putten ausgemalt war, die ihre Blöße kaum verhüllten. Der Raum wurde geteilt von Säulen, auf denen Büsten vornehmer Damen und Jünglinge mit nacktem Torso standen. Guiomar sah die Bilder an den Wänden, die bukolische Landschaften zeigten, Szenen aus der Mythologie und Personen, die mit ernster Miene den Betrachter anschauten, wohl in der Absicht, der Nachwelt als gewichtige Persönlichkeiten im Gedächtnis zu bleiben.
Guiomar überlegte, ob es sich möglicherweise um einen Teil von Monsieur Verdoux’ Familie handelte, sein Vater vielleicht, die Schwester, ein adliger Großvater, der ihm alles vererbt hatte … Beschämt stellte sie fest, wie wenig Mühe sie sich gegeben hatte, ihren Lehrer, ihren lebenslangen Beschützer, wirklich kennenzulernen. Nie hatte sie sich gefragt, wie er lebte, wer ihm die Knöpfe an seine Samtjacketts nähte oder seine feinen Seidenhosen wusch.
Guiomar war nur sehr selten in diesem Haus gewesen. Ihr Vater hatte sie gelegentlich mitgenommen, als sie noch klein war. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl von damals, als wäre an diesem Ort die Zeit stehengeblieben. Sanftes goldenes Licht war durch die Fenster hereingefallen, auf die Möbel aus edlem Holz, die vergoldeten Bilderrahmen und die alten Gobelins an den Wänden, die Schlachten in fernen Ländern zeigten. Monsieur Verdoux’ Bibliothek war nicht so akribisch geordnet wie die in der Druckerei. Julia hatte ihre Bände nach Sachgebieten streng alphabetisch gestellt und stets darauf geachtet, dass die Rücken eine gerade, harmonische Einheit bildeten. Hier herrschte in den Regalen eine heillose Unordnung von Texten, Traktaten, Handbüchern, gebundenen und ungebundenen Werken, die kreuz und quer neben- und
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