Der Turm der Könige
der Abtei herum und stellte den Mönchen Fragen, stöberte in der Bibliothek und half in der Küche aus. Die Mönche schlossen ihn ins Herz und unterwiesen ihn im Lesen. Später brachten sie ihm Latein bei, und schließlich führten sie ihn in die Kunst des Schachspiels ein.
Er merkte, dass dieses Spiel seinen Verstand wesentlich mehr forderte als alles andere, was ihm bisher im Leben begegnet war. Monsieur Verdoux stellte seine Konzentrationsfähigkeit, seine Kombinationsgabe, seine Beharrlichkeit und seinen kühlen Kopf unter Beweis. So besessen war er, dass er mit verbundenen Augen spielen konnte, weil er die Figuren auf einem imaginären Schachbrett im Kopf anordnete.
Die Mönche in der Abtei waren erstaunt über seine Fähigkeiten. Dieser Knabe schien das Wissen förmlich aufzusaugen. Sie kamen zu dem Schluss, dass es ein schlimmer Fehler wäre, ihn seinem Schicksal als Tagelöhner zu überlassen.
Bald verbrachte er den ganzen Tag in der Abtei, ohne zum Mittagessen nach Hause zurückzukehren, und dann auch nicht mehr zum Abendessen. Irgendwann erlaubten die Mönche ihm, in einer der leerstehenden Zellen der Abtei zu schlafen. Er entfremdete sich zunehmend von seiner Familie, die so ganz anders war als er, ungebildet und grob, und konnte sich nicht vorstellen, dass in ihren Adern das gleiche Blut floss wie in seinen.
Und so hörte er eines Tages auf, mit seiner Familie zu sprechen. Er begann sie zu verachten, bis er sie eines Tages gar nicht mehr wahrnahm, wenn sie vor den Klostermauern die Erde harkte. Danach fühlte er sich wie befreit. Er hatte noch nicht die Gelübde abgelegt, als der Abt ihm eines Tages die unglaubliche Geschichte einer jahrhundertealten Schachpartie erzählte: Zwei Könige spielten an einem exotischen Ort namens Sevilla um einen Turm. Sie mussten ihm aufzeichnen, in welcher Weltgegend diese Stadt lag. Einen Monat später machte er sich auf den Weg dorthin, über tausend Silberstücke und einen Auftrag in der Tasche. Er sollte einen Mann namens Fernando Álvarez aufsuchen, wegen seiner mahnenden Schriften auch als der »Alte Weise« bekannt, der insgeheim als Laienbruder dem Calatrava-Orden angehörte. Dieser würde ihm sagen, was er zu tun habe.
Der »Alte Weise« brachte ihm Spanisch bei und zeigte ihm, wie man sich dem Lebensstil der Sevillaner anpasste, die ihre Freude und ihren Schmerz auf der Zunge trugen. Das war neu für ihn, stammte er doch aus einem Land, in dem es geschätzt wurde, wenn man sich in Freud und Leid beherrschte. Fernando Álvarez erklärte ihm, dass seine Hilfe von entscheidender Bedeutung sei, denn da er in der Stadt ein völlig Unbekannter war, würde ihn niemand verdächtigen.
Dann eröffnete er ihm, dass seine Aufgabe darin bestehen würde, die Regeln dieser Schachpartie zu finden und zu vernichten. Laut dem Testament König Alfons’ des Weisen waren die Mönche des Johanniterordens damit beauftragt worden, die Bedingungen der Wette aufzubewahren. Dank einer großzügigen Schenkung hatte Monsieur Verdoux schon bald deren Prior, Bruder Dámaso, für sich gewonnen. Man nahm ihn als Laienbruder in den Orden auf und gewährte ihm Zutritt zur Komturei, wo er sich frei bewegen konnte. Schon bald teilten sie ihre Geheimnisse mit ihm und luden ihn zu ihren Versammlungen ein. Sie fanden seine Schachkenntnisse überaus hilfreich, schätzten seine Eleganz, seine Bildung und seine Lebensart. Mit der Zeit machte er sich unentbehrlich für sie.
»Der Tag, an dem ich deinen Vater kennenlernte«, erinnerte sich Monsieur Verdoux, »war ein sehr vielversprechender Tag für mich. Der Botschafter von Marokko weilte zu Besuch in Sevilla. Die Mönche des Johanniterordens versuchten, ihm deutlich zu machen, dass sie nichts mit den Briefen zu tun hatten, in denen tatsächliche Schlachten in Bezug zu der alten Wette gesetzt wurden. Dein Großvater, León de Montenegro, sollte mit dem Botschafter verhandeln, weil er als Einziger Arabisch sprach. Aber er ließ auf sich warten, und so begann ich, mich auf Französisch mit dem Botschafter zu unterhalten.« Monsieur Verdoux’ Augen glänzten. »Später am Abend erschien dein Großvater, deinen Vater an der Hand. Da stand ein Bengel von gerade einmal zehn Jahren und führte einen glänzenden, wunderbaren Zug aus, der nicht zu verbessern war.« Seine Begeisterung schien mit jedem Wort größer zu werden. »Er brauchte sich nicht einmal zu konzentrieren. Er hatte eine Süßigkeit in der Hand – ich weiß nicht, woher er die hatte –
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