Der Turm der Könige
notwendiges Opfer, versteh das doch. Sie war nur ein Bauer. Ein Bauer, der im Weg stand, weil er zur Dame werden wollte. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte es nicht tun müssen. Du weißt doch, wie ungern ich Blut sehe …« Er seufzte sichtlich angewidert. »
Quel dommage
!«
Und dann erzählte er, wie er zum Haus von Julitas Großeltern gegangen war, um ihnen zu erklären, dass Abel zu Höherem berufen sei, als zu heiraten und Kinder zu bekommen. Er klopfte an die Tür. Sie ließen ihn herein, weil sie ihn gut kannten, und boten ihm Kaffee an. Als sie das Tablett mit dem Gebäck gebracht hatten und alle am Tisch saßen, begann Monsieur Verdoux, Julita von Abels Bestimmung zu erzählen, davon, dass er einer jahrhundertealten Sache verpflichtet sei und sich unmöglich ernsthaft binden könne. Deshalb bitte er sie – nein, er verlange von ihr! –, dass sie den Jungen in Ruhe lasse. Aber Julita hörte ihm gar nicht richtig zu und erklärte, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Dann forderte sie ihn auf zu gehen und wies ihm barsch die Tür.
»Keine Klasse,
chérie
, keine Klasse! Wenn dein Vater sie so gesehen hätte, wäre es mit seiner Liebe sofort vorbei gewesen. Ganz bestimmt! Könntest du mir bitte ein bisschen Wasser geben?«, sagte er mit Blick zum Sekretär, auf dem ein voller Krug und ein Glas standen.
Guiomar wollte seiner Bitte zuerst nicht Folge leisten, doch dann überlegte sie, dass sie wissen musste, wie die Geschichte weiterging. Die Geschichte der Familie, die unvollendete Geschichte des
Buchs ohne Namen
. Monsieur Verdoux musste weitererzählen, damit sie einen Schlussstrich darunter ziehen konnte. Sie schenkte das Glas voll und streckte es ihm barsch entgegen. Dabei verschüttete sie etwas Wasser auf das Bett. Monsieur Verdoux sah sie traurig an, doch Guiomar blickte weg. Er trank einen Schluck, dann räusperte er sich, bevor er weitersprach.
»Es machte mich furchtbar wütend, dass ein dahergelaufenes Mädchen mich einfach so rausschmeißen wollte«, sagte er. »Meine Anstrengungen von Jahren, alles war völlig umsonst gewesen. Ich hatte es nicht geplant, ehrlich. Plötzlich sah ich einen Brieföffner auf einem Bord liegen. Ich nahm ihn, ohne nachzudenken, glaub mir,
chérie
. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist dieses Mädchen, das sich am Revers meiner Jacke festhält, um nicht zu Boden zu sinken. Der Brieföffner steckte in seiner Brust. Ich zog ihn heraus und stach noch einmal zu, und noch einmal, und noch einmal … Ich weiß nicht, wie oft.«
Er blickte auf seine Hände hinunter, die er so fest rang, dass die Finger weiß wurden.
»Es ist ein merkwürdiges Gefühl, jemanden sterben zu sehen, vor allen Dingen, wenn du es bist, der ihm das Leben genommen hat. Die Augen erlöschen, bis sie sich trüben und der Blick bricht.« Er sprach ganz leise, fast beschwörend. »Mir blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Ihre Großeltern stürzten sich auf mich, und ich musste schnell reagieren. Sie haben nichts davon gemerkt. Jetzt wusste ich ja, wie das ging.«
Der Ton, in dem Verdoux den letzten Satz gesagt hatte, fuhr Guiomar durch Mark und Bein. Wer war dieser Mann?
»Mein Gott! Du bist ein Monster«, stieß sie hervor.
»Du solltest mir dankbar sein«, widersprach er verstimmt. »Wenn ich dieses Mädchen nicht aus dem Weg geräumt hätte, hätten dein Vater und deine Mutter sich nie kennengelernt und es gäbe dich überhaupt nicht.«
Ausdruckslos setzte Monsieur Verdoux seine Schilderung der Ereignisse fort. Zunächst hatte er die Beweise beseitigen müssen. Er warf das blutbefleckte Jackett zusammen mit dem Brieföffner, der ihm als Mordwaffe gedient hatte, in den Fluss. Mit klopfendem Herzen ging er nach Hause, während er hoffte, dass ihn niemand gesehen hatte, und sich Erklärungen zurechtlegte, falls die Stadtbeamten kamen, um ihn zu verhören. »Warum sollte ich diese entzückenden Leute umbringen, also bitte, sie waren wie eine Familie für mich … Welcher Schuft war das? Diese Stadt wird immer gefährlicher.« Aber er musste nichts erklären. Der Hauptverdächtige war Cristóbal Zapata, aber da es keine direkten Beweise gegen ihn gab, blieb das Verbrechen ungeklärt. Und Monsieur Verdoux erreichte, was er wollte: Abel de Montenegro befasste sich wieder mit der Mission.
»Es war perfekt, absolut perfekt. Dein Vater kehrte auf den rechten Pfad zurück, und ich nahm wieder eine entscheidende Rolle in der Geschichte ein.« Er senkte erneut die
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