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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Stufen der Kathedrale vorbei, um nach dem Schreiber zu suchen, bei dem er den Liebesbrief in Auftrag gegeben hatte. Es herrschte wieder die gewohnte Geschäftigkeit, aber man spürte, dass eine untergründige Angst vor einem neuerlichen Erdbeben in der Luft lag. Aus Sicherheitsgründen war das Stadtzentrum drei Monate lang für Karren gesperrt worden. Die Rampe, die es dem Muezzin in arabischer Zeit erlaubt hatte, zu Pferde bis auf die Giralda zu gelangen, um zum Gebet zu rufen, war von dem Erdbeben schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.
    León entdeckte beträchtliche Risse, die an der sechsten Rampe begannen und sich über die Balkone der Nordseite hinwegzogen, so dass die Schäden ab der achtzehnten Rampe enorm waren. Im Glockengeschoss waren einige Gewölbe so stark zerstört, dass das Läuten der Glocken durch die Schwingung und den Schall nicht nur eine Gefahr für das Gebäude, sondern auch für die Passanten darstellte. Der Dombaumeister der Kathedrale versicherte, dass das Brunnengeschoss am stärksten betroffen sei und sich eigentlich nur durch die Göttliche Vorsehung aufrecht halten könne. Als hätte das Erdbeben nicht genug Schaden angerichtet, fegte einige Tage später ein Sturm über die Stadt hinweg und machte einen neuerlichen Bericht nötig, in dem weitere Schäden an der Giralda festgestellt wurden. Nun klafften an allen vier Seiten des almohadischen Baus tiefe Risse, die mit Gips und Ziegeln verfüllt werden mussten.
    Die Schreiber hatten sich zum Schutz in das Gewirr kleiner Gässchen gegenüber dem Turm zurückgezogen, in den sogenannten Corral de los Olmos. Deshalb dauerte es eine ganze Weile, bis León den Mann fand, der ihn am Morgen auf der Suche nach Arbeit angesprochen hatte. Er war gerade dabei, die letzten Details des Briefs fertigzustellen.
    »Ich hoffe, er gefällt Ihnen«, sagte er zu León, bevor er ihm stolz das Schriftstück vorlegte. »Sie brauchen nur noch zu unterschreiben.«
    Der Brief war auf einem Pergament geschrieben, das mit einem bunten Ornamentband umfasst war, aus dem allerlei unglaubliche Tiere hervorwuchsen, halb Greifvögel, halb Damen, Giraffenkörper und Geisterfratzen. Diese Fabelwesen tollten durch einen Paradiesgarten mit Obstbäumen, goldenen Trauben und cyanblauen Blumen. Der Text war auf zwei Spalten aufgeteilt und mit schwarzer Tinte geschrieben, mit Ausnahme der ersten drei Wörter jedes Absatzes, die blutrot leuchteten.
    »Das ist perfekt!«, rief León lächelnd, nachdem er den Brief zweimal gelesen hatte. »Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet. Ich werde mich wie versprochen beim Druckermeister für Sie verwenden. Kommen Sie morgen früh vorbei und fragen Sie nach Cristóbal Zapata. Er wird Sie empfangen. Der Brief ist perfekt«, sagte er dann noch einmal, ohne den Blick davon zu wenden, und legte zwei Reales als Bezahlung auf den Tisch.
    Der Schreiber sah, wie León in Richtung Druckerei davonging.
    »Natürlich werde ich morgen früh in der Druckerei sein«, murmelte er vor sich hin. »Da kannst du sicher sein, León de Montenegro.«
    ***
    AN DIESEM ABEND GING León vor Julia auf die Knie, bevor er sie liebte.
    »Ich hätte nie zulassen dürfen, dass du mir einen Antrag machst.«

    »Das ist doch bedeutungslos«, unterbrach sie ihn und strich ihm über den Kopf. Er hielt ihre Hände fest und legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen.
    »Ich habe dir nicht viel zu bieten: meinen Körper, von dem du weißt, dass er dir gehört, das Herz, das darin schlägt, und … diesen Brief.« Er nahm das Pergament, das mit einem roten Bändchen zusammengerollt war, aus der obersten Nachttischlade. »Worte werden vom Wind davongetragen, also vergessen wir einfach, wer zuerst den Antrag gemacht hat. Wenn wir alt sind und uns das Gedächtnis verlässt, können wir dieses Papier betrachten, das uns bestätigen wird, dass ich es war, der um deine Hand anhielt.«
    León übergab ihr den Brief. Sie löste das Band, zog das Pergament heraus und begann langsam zu lesen, schweigend, mit gesenktem Kopf und ohne eine Miene zu verziehen, bis schließlich eine einzelne Träne über ihre Wange rollte.
    »Wie lautet deine Antwort?«, fragte León ungeduldig.
    »Ja … Ja, ich will dich heiraten«, flüsterte sie.
    ***
    CRISTÓBAL ZAPATA WAR VERÄRGERT, als León ihm erklärte, er habe einen äußerst talentierten jungen Mann kennengelernt, der für die Druckerei arbeiten wolle. Er sagte nichts, weil Doña Julia dabeistand und es ihr

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