Der Turm der Könige
Mann. Wir müssen ihn entlarven.«
»Entlarven …«, murmelte Cristóbal mit leerem Blick.
***
DOÑA JULIA, DIE FEST DARAN GLAUBTE, dass alles auch seine guten Seiten hatte, ließ umgehend die Scheiben des Geschäfts austauschen, die Maschinen instandsetzen und nahm dann die Arbeit in der Druckerei wieder auf. Ihr Gespür sagte ihr, dass die Leute nach dem ersten Schrecken erfahren wollten, was genau im Inneren der Erde geschehen war, dass sie auf so katastrophale Weise gebebt hatte.
»Die Menschen sind von Natur aus krankhaft neugierig«, erklärte sie. »Bald werden sie wissen wollen, wie viele Städte außer Sevilla noch in Trümmern liegen, wie viele Tote es insgesamt gegeben hat, wie groß das Unglück ist, das andere ereilt hat. Sie werden von den Schäden erfahren wollen, von Kummer und Leid … Das Unglück der anderen lässt das eigene Unglück geringer erscheinen, auch wenn wir das niemals laut zugeben würden.«
Sie studierte ihre Konkurrenz und sah, dass
La Gaceta de Madrid
, zur Zeit das einzige offizielle Informationsorgan, lediglich auf der letzten Seite einen nichtssagenden, substanzlosen Bericht über das Erdbeben veröffentlicht hatte. Dieser verriet deutlich, dass das Leben der Vornehmen als wertvoller erachtet wurde als das der einfachen Leute, denn er betonte, dass die Königin und Infant Don Luis durch Gottes Gnade keinen Schaden genommen hätten. Daraufhin beschloss Julia, diese Informationslücke zu füllen, und beauftragte Cristóbal Zapata, sich nach den besten Schreibern umzusehen, die ausführliche, kenntnisreiche Berichte über das verheerende Erdbeben verfassen sollten.
Fernando Álvarez wurde damit beauftragt, die bemerkenswertesten Begebenheiten zu schildern und niederzuschreiben, die dann als Flugschriften in der Stadt verteilt werden sollten. Er unterzeichnete seine Werke mit dem Pseudonym »Ein alter Weiser«, um seine Anonymität zu wahren.
»Damit unser Bündnis nicht entdeckt wird«, erklärte er Cristóbal.
Eine seiner Geschichten wurde zu einem echten Verkaufsschlager. Es hieß, dass jeder Person, unabhängig von Geschlecht und sozialer Stellung, die den Text mit Hingabe las, ein hundertachtzigtägiger Ablass gewiss sei. Vor der Tür von Doña Julias Laden bildeten sich lange Schlangen. Das Blatt mit der Geschichte war immer dabei, zwischen den Seiten der Messbücher, in den Strumpfbändern der Damen, in den Taschen der Herren – sogar unters Bett legte man es, um hin und wieder einen Blick darauf zu werfen, wenn man unter nächtlicher Unruhe litt. Die Sevillaner waren überzeugt, dass ihnen nichts Schlimmes widerfahren konnte, solange man unter dem Schutz dieses Zettelchens stand, auf das Julia noch ein ebensolches Kreuz mit acht Spitzen drucken ließ, wie es ihr Geliebter um den Hals trug.
Als sie Cristóbal bat, ihr den Schreiber vorzustellen, der ihnen so viel Ruhm einbrachte, wich der Druckermeister aus und erklärte, dieser sei ein scheuer Mensch, der nie das Haus verlasse, weil sein Gesicht von den Pocken entstellt sei.
»Das hat ihn eigenbrötlerisch und misstrauisch gemacht. Inneren Frieden findet er nur beim Schreiben«, sagte er, »und er will mit niemandem zu tun haben außer mit mir.«
So vergingen die Tage. Die Geschichten des »Alten Weisen« wurden berühmt und hatten solchen Einfluss auf die Gesellschaft, dass sie wegweisend wurden und sich allmählich zu einer erbitterten Kritik an der Aufklärung entwickelten. Viel später, als die Pest in Sevilla wütete, erzählte Cristóbal Doña Julia die wahre Geschichte des »Alten Weisen« und welche Beziehung sie miteinander verband. Aber das war viel später.
Innerhalb eines knappen Monats arbeitete die Druckerei wieder ganz normal, als ob nichts geschehen wäre. Alles war unverändert. Alles außer dem Holzschild mit der eingebrannten Aufschrift »Druckerei de Haro«, das jahrelang vor der Tür des Ladens gehangen hatte. Die Kette, mit der es befestigt gewesen war, war gerissen, und so wurde es auf den Dachboden gelegt und vergessen. Cristóbal war der Einzige, dem auffiel, dass Julia es nicht eilig hatte, es wieder aufzuhängen.
3 Kd2++
Ein guter Spieler hat immer Glück.
JOSÉ RAÚL CAPABLANCA
J ulias Mutter war außer sich, als sie durch das zuverlässige Mittel des öffentlichen Klatsches von den Hochzeitsplänen ihrer Tochter erfuhr. Die Ärmste glaubte zunächst, nicht richtig zu hören. Dann fiel sie in Ohnmacht, und ihr Mann musste ihr schlückchenweise Kirschlikör einflößen, das
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