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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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hatte.«
    León ließ sich resigniert auf einen Stuhl sinken.
    »Wir wollen dich nicht entmutigen, León«, erklärte Bruder Dámaso freundlich, »aber man darf sich nicht vom Gefühl leiten lassen. Wir müssen die Dinge in Ruhe angehen. Kehren wir zu dem Stein zurück, seien wir vernünftig. Wenn er Auskunft darüber geben sollte, wo sich die Spielregeln befinden, weshalb brachte man ihn dann im Gewölbe der Kathedrale an? In dieser Höhe hätten wir die Botschaft nicht lesen können, wäre er nicht durch Zufall bei dem Erdbeben heruntergefallen.«
    »Ich weiß nicht … Vielleicht ist der Stein so etwas wie das Kreuz auf der Schatzkarte«, wandte León ein.
    »Dann müssten wir die genaue Stelle ausfindig machen, an der er eingelassen war«, setzte Bruder Dámaso hinzu.
    León merkte nicht, dass der Chormeister, ein nahezu blinder Mönch, mit seinen knotigen Fingern die Oberfläche des Steins befühlte.
    »Ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte er plötzlich. »Vielleicht hat der Junge recht.«
    Alle Blicke richteten sich auf den alten Mann. Erwartungsvoll beobachteten sie, wie er den Stein abtastete, zärtlich seine Kurven nachzeichnete und seine Vertiefungen mit derselben Meisterschaft las, mit der er die Orgeltasten in der Kirche bediente.
    »Erklärt Euch, Bruder, ich bitte Euch«, bat der Prior ungeduldig.
    »Die Kathedrale wurde 1506 fertiggestellt, doch eine kleine Öffnung im Gewölbe hatte man frei gelassen. Eine bekannte Persönlichkeit sollte den letzten Stein einsetzen und so den Abschluss der Bauarbeiten feierlich begehen. Ein rein symbolischer Akt«, urteilte der blinde Alte, bevor er mit der Geschichte fortfuhr. »Es war ein Samstag. In jenen Jahren war Don Diego Deza Erzbischof von Sevilla, doch er konnte nicht nach oben ins Gewölbe klettern, weil er bereits hochbetagt war und ihm die Knochen wehtaten – so wie mir vor Regenwetter. Bei starken Temperaturschwankungen ist es besonders schlimm, und ich …«
    »Schweifen wir nicht vom Thema ab, Bruder«, unterbrach ihn der Prior.
    »Ja doch … Also gut. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Die Wahl fiel auf den Herzog von Medina Sidonia, Don Fadrique Enríquez, und Don Manuel López de Haro, ein Vorfahr unseres Druckers, der vermutlich diese Dokumente versteckte. Sie sollten das Gerüst erklimmen und den Schlussstein einsetzen, während unten das
Te Deum
gesungen wurde.« Der blinde Musiker begann zu summen und bewegte die Hände, als dirigiere er einen imaginären Chor und könne deutlich die Stimmen hören.
    »Bruder!«, rief ihn der Prior erneut zur Ordnung.
    »Oh … ja, ja, entschuldigt, ihr Ritter. Die Feierlichkeiten anlässlich der Beendigung der Bauarbeiten sollten sich eigentlich über einen Monat hinziehen, mussten dann aber abgebrochen werden. Unglücklicherweise starb in jener Woche Prinz Philipp, der Schöne, und seine Gemahlin, Königin Johanna, verlor den Verstand und wollte ihn nicht bestatten. Es war wirklich ein Unglück. Der junge Prinz war erst achtzehn Jahre alt, und sie liebte ihn so sehr, dass …«
    »Bruder! Bei der Liebe Gottes, wir sitzen auf glühenden Kohlen.«
    »Ja … also.« Er räusperte sich und betastete erneut den Stein, der auf dem Tisch lag. »Ich denke, dass dies kein gewöhnlicher Stein ist. Wenn mich mein Instinkt nicht trügt, ist es der Schlussstein, der an jenem Samstag des Jahres 1506 in das Gewölbe der Kathedrale eingesetzt wurde. Wenn ich recht habe, ist diese Inschrift mitnichten ein Steinmetzzeichen. Dieser Stein ist eine individuelle Schöpfung. Ein Schlussstein wurde niemals von einem gewöhnlichen Steinmetz geschaffen! Er ist das Werk eines Bildhauers, der ohne jeden Zweifel die Absicht hatte, uns etwas mitzuteilen. Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass ursprünglich Don Manuel López de Haro einer der Männer war, die ihn einsetzen sollten, liegt der Schluss nahe, dass er uns vielleicht etwas damit sagen wollte. Möge der Herr uns die nötige Klarsicht verleihen, um die Botschaft zu verstehen, die sich hinter der Inschrift verbirgt. Meine Herren!« Er machte eine feierliche Pause. »Ich bin überzeugt, dass wir hier auf dem Tisch den Stein vor uns haben, mit dessen Anbringung die Arbeiten an der Kathedrale von Sevilla beendet wurden. Es ist das, was man seinerzeit den ›letzten Stein‹ nannte.«
    ***
    LEÓN HATTE EINEN MOMENT lang geglaubt, seine Ordensbrüder aus der Komturei San Juan de Acre könnten Zweifel an seiner Theorie haben, der Schlussstein sei ein untrüglicher

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