Der Turm der Könige
Hinweis darauf, dass sich die Spielregeln in der Kathedrale befanden. Deshalb freute er sich, als sich die Mönche für diese Möglichkeit zu begeistern begannen. Sie nahmen einen großen Bogen Papier, legten ihn auf das Reliefbild und rieben mit einem Kohlestift darüber, bis es sich deutlich auf dem Papier abzeichnete. So konnte León den Stein in den Patio der Druckerei zurückbringen, bevor ihn jemand vermisste. Zwei Tage später hatten die Mönche bereits einige Theorien über die dargestellte Szene und besprachen sie in der Abgeschiedenheit des »Krak des Chevaliers«. Stundenlang starrten sie auf das Papier. Die riesigen Kandelaber, die in den Ecken des Saals standen, warfen einen goldenen Lichtschein und flackernde Schatten auf die Wände, die Karten, die Bücher und die Gesichter der Männer.
»Es sieht fast so aus, als handelte es sich um eine Schachpartie in einer Schachpartie«, stellte der Prior fest.
»Sprecht bitte weiter, Bruder Dámaso«, drängte León.
»Also …« Der Mönch holte Luft, um sich zu sammeln und auszuführen, was ihm schon eine ganze Weile durch den Kopf ging. »Klar ist, dass auf dem Relief eine Schachpartie dargestellt ist. Eine Partie, bei der der weiße König den schwarzen König mit Hilfe zweier Springer schachmatt setzt. Aber wir alle wissen, dass Springer eigentlich Pferde, also Tiere, sind und des Denkens nicht mächtig. Sie können nicht Schach spielen und erst recht keine Strategie entwerfen. Richtig?«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Bruder Lorenzo ungeduldig.
»Alfons der Weise war ein großer Liebhaber dieses Spiels. Er war es, der seinen Vater davon überzeugte, dass der einzige Weg, den Feind zu besiegen, darin bestehe, bei der Belagerung Sevillas nach den Regeln des Schachs vorzugehen. Er schlug vor, die Umgebung der Stadt in imaginäre weiße und schwarze Felder einzuteilen, um eine Strategie zu ersinnen, die ihnen dabei helfen sollte, ihre ›Figuren‹ an der richtigen Stelle zu platzieren. König Ferdinand setzte daraufhin das Heer als Bauern ein und die Tempelritter, den Calatrava-Orden, den Santiagoorden und unsere Ritter vom Johanniterorden als Kavallerie. Komplettiert wurde die weiße Partei durch die Läufer, die niemand anders waren als sein eigener Sohn Prinz Alfons und Don Remondo, der Kaplan seiner Armee.«
»Der nach der Eroberung der Stadt zum Bischof von Sevilla ernannt wurde«, bemerkte León. »Der Läufer wurde häufig als Bischof dargestellt. Im Mittelalter war er die Figur, die direkt neben dem König stand. Die Dame war damals von keinem großen Wert.«
»Und im Französischen wird der Springer im Schach
cavalier
genannt, was Ritter bedeutet, nicht Pferd«, setzte Bruder Dámaso hinzu. »Wenn dem so ist, sehe ich bei dieser Szene, die auf dem Stein dargestellt ist, vier christliche Ritter. Die beiden weißen Figuren auf dem Spielbrett sowie die beiden Männer, die neben König Ferdinand stehen. Eine der größten strategischen Leistungen bei der Einnahme Sevillas gelang zwei Rittern namens Garci Pérez de Vargas und Pelayo Pérez Correa, die als Muslime verkleidet in die Stadt schlichen. Dabei nutzten sie den Umstand, dass ein Stadttor, die Puerta de Córdoba, nachts zu einer gewissen Zeit geöffnet wurde, um Lebensmittel in die Stadt zu schaffen. Ihr taktisches Ziel war es, das Verteidigungssystem des Feindes auszukundschaften.«
»Wie beim Schach«, bemerkte León.
»Genau. Die Taktik dieser beiden Ritter war entscheidend für den Erfolg ihres Königs bei der Einnahme von Sevilla«, fuhr Bruder Dámaso begeistert fort. »Wie ihr seht, ist der Schachzug, der auf dem Spielbrett des Schlusssteins dargestellt ist, folgender: Kd2++. Darüber hinaus bildet aber auch der Boden, auf dem die dargestellten Personen stehen, ein Schachbrettmuster.«
Die Männer betrachteten erneut das Papier und entdeckten einige schwache Einkerbungen in der Oberfläche des Steins, welche die Linien der Bodenfliesen andeuteten.
»Das heißt also«, folgerte einer der Mönche, »dass die Hauptpersonen, die in der Szene erscheinen, ebenfalls auf einem Schachbrett dargestellt sind: zwei Könige, zwei Springer – also Ritter –, ein weißer Läufer …«
»Ein Schachbrett, das ein weiteres Schachbrett enthält …«, murmelte León. »Was ist die Welt anderes als ein großes Schachbrett? Wir glauben, die Schachfiguren unseres Lebens zu bewegen, doch das stimmt nicht. Wir selbst sind die Figuren!«
Er merkte, dass ihn die Mönche verständnislos
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