Der Turm der Könige
haben; sie erschien ihr wie eine ruhiger, sanfter Traum, in dem sie auf watteweichen Wolken dahingeschwebt war.
Mamita Lula hatte Doña Julia immer wie ein eigenes Kind betrachtet, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen nur neun Jahre betrug, sie in unterschiedlichen Welten geboren waren, in ihren Adern unterschiedliches Blut floss und sie von unterschiedlicher Hautfarbe waren. Von dem Moment an, da sie in der unbegreiflichen Welt der Weißen gelandet war, war die kleine Julia das einzige Wesen gewesen, das ihr wirklich nahegestanden hatte. Mit ihr lernte sie die neue Sprache sprechen, den Rosenkranz beten, Besteck benutzen, Knöpfe schließen und Schnürsenkel binden. In jenen Jahren gaben die beiden ein denkwürdiges Paar ab. Sie schlenderten Hand in Hand durch die Stadt bis zum Fluss und rissen dort das Schilf am Ufer aus, um das Mark auszusaugen. Sie spielten Ball mit den Bitterorangen, die von den Bäumen fielen, und hielten an den drückend heißen Sommernachmittagen gemeinsam ein Schläfchen, schwitzend und eng umschlungen, bis Julias Mutter sie trennte und dabei ein riesiges Donnerwetter veranstaltete.
»Das ist doch nicht normal«, zeterte sie. »Es ist ja nichts dagegen zu sagen, wenn wir eine Negerin unter den Dienstboten haben, aber dass sie den ganzen Tag mit dem Mädchen zusammengluckt … Wir haben keine Ahnung, woher sie kommt; womöglich schleppt sie uns etwas ein, eine Krankheit oder so etwas … Du kennst dich doch mit solchen Dingen aus, du solltest mich verstehen«, ereiferte sie sich gegenüber ihrem Mann.
»Ja, Liebling«, antwortete dieser abwesend, ohne den Blick von dem Buch zu wenden, das er gerade las, und ohne die geringste Absicht, in dieser Sache etwas zu unternehmen.
Und tatsächlich unternahm Juan Nepomuceno nichts, um die Mädchen voneinander zu trennen. Im Laufe der Zeit wurde Mamita Lula zu Julias Stütze, auf die sie sich verließ, wenn sie viel Arbeit hatte, große Sorgen oder das Bedürfnis nach Nähe. Die Dienerin widmete sich ihrem Wohlbefinden mit einer fast mystischen Hingabe, die nur mit den Gelübden einer Nonne zu vergleichen war. Ihr leidenschaftliches Wesen verbot es ihr, das Leben anders zu sehen. Sie vergaß ihre eigenen Ursprünge, um sich die ihrer Herrin zu eigen zu machen.
Dass León der Vater des noch ungeborenen Kindes war, tat für sie nichts zur Sache; sie sah in diesem neuen Leben eine Fortsetzung von Doña Julia, gleichsam ein Wunder. Für sie war das Baby wie ihr eigen Fleisch und Blut, und sie schwor vor dem Allerheiligsten, es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen und sein Leben für es hinzugeben, wenn es nötig war. Eines Tages erzählte sie Julia von Kindern, die mit einem Ringelschwänzchen zur Welt gekommen seien, weil ihre Eltern ihre Lust nicht im Zaum halten konnten.
»Ringelschwänzchen?«, wunderte sich Julia. »Wer erzählt dir denn so etwas?«
»Ich hab’s selbst gesehen«, behauptete Mamita Lula.
»Du weißt schon, dass auch Lügen im Jenseits bestraft werden, oder?«
Aber nach kurzer Zeit hörte Julia auf zu diskutieren. Sie ließ einfach alles an sich abprallen, was ihr zuvor den Schlaf geraubt hatte, und konzentrierte sich nun ganz auf die Veränderungen ihres Körpers. Sie saß stundenlang untätig am Fenster ihres Zimmers und summte vor sich hin. Sie strickte winzige Jäckchen, Höschen, Mützchen und Tücher aus reiner Schafwolle, obwohl das Kind mitten im sevillanischen August zur Welt kommen würde. Sie fühlte, wie all ihre Kraft verzehrt wurde, um diesem Wesen Energie zu geben, das in ihr heranwuchs. Sie bewegte sich kaum noch; sie war erschöpft, aber glücklich.
Im Laufe der Wochen nahmen ihre Eigenarten immer weiter zu. Sie verabscheute die meisten Dinge, die mittags oder abends auf den Tisch kamen, und ernährte sich nur noch von dem Orangenbiskuit, den Mamita Lula im Holzofen buk.
Am sonderbarsten aber war, dass Julia auch den Appetit auf León verlor. Sie fand seine Blicke nicht länger verführerisch, seinen Körper nicht mehr verlockend, seine suchenden Hände eher störend. Die verbotenen Wörter, die er ihr in den Augenblicken größter Leidenschaft ins Ohr geflüstert hatte und die sie normalerweise schier um den Verstand brachten, erschienen ihr nun albern und dumm. Sie vertrieb ihn allmählich aus ihrem Bett unter dem Vorwand, dass sie sich unwohl fühle, dass ihr heiß sei, dass er sie so früh aufwecke, bis er schließlich wieder die Lehrlingskammer im Keller bezog, die einmal ihr heimliches
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