Der Turm der Könige
Kopf abschlagen werde, der es wage, auch nur einen Stein dieses majestätischen Turms anzurühren. Er hatte das Bauwerk während der monatelangen Belagerung von seinem Feldlager in Tablada aus betrachtet und war voller Bewunderung. Ihm gefiel die goldbraune Farbe, die ihn an die Haut der heißblütigen Frauen des Südens erinnerte. Er fand ihn von bemerkenswerter Schönheit, mit seinen riesigen, vergoldeten Bronzekugeln auf der Spitze, die bei Tag funkelten wie die Sonne und in der Nacht aussahen wie ein Abbild der Selene. Er, der die Astronomie liebte, nahm an, dass sich von diesem einzigartigen Observatorium aus, das nur einen Schritt vom Himmel entfernt war, die Sterne beobachten ließen, wie es noch niemand zuvor getan hatte. Etwas sagte ihm, dass dieser Turm
sein
Turm werden musste.
Prinz Alfons war davon überzeugt, dass seine Seele keine Ruhe finden würde, wenn er nicht in der Nähe dieses Turmes sein konnte. Er machte ihm klar, was der biblische Satz bedeutete, dass der Mensch Staub sei; derselbe Staub, aus dem alle Gestirne gemacht waren, die Tiere, die Pflanzen und die Lehmziegel, aus denen man diesen Turm errichtet hatte. Derselbe Staub, aus dem Gott seinen Leib und den seiner Feinde geformt hatte. Und er konnte den Schmerz der Muslime nachempfinden, die dieses Land verlassen mussten, das fünfhundert Jahre ihre Heimat gewesen war, weil Kriege keine Barmherzigkeit kennen. Also bat er seinen Vater um einen kleinen Gefallen: einen Kompromiss, der das schreckliche Leid seiner Feinde leichter machte.
Da er ein begeisterter Schachspieler und außerdem ein Anhänger der Kabbala war, schlug er ihm vor, mit Axataf um den Turm der großen Moschee zu spielen: Er sollte dem gehören, der als Erster drei Partien gewann. Die Tempelritter und die Ritter des Johanniterordens, die König Ferdinand zum Ruhme des Christentums bei der Eroberung der muslimischen Gebiete auf der Iberischen Halbinsel unterstützt hatten, waren bei der Kapitulation zugegen und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Vor allem die Ritter des Calatrava-Ordens hielten diese Wette für eine ausgemachte und zudem überflüssige Dummheit angesichts der Tatsache, dass Sevilla ohne Wenn und Aber erobert worden war. Es nützte nichts, dass Infant Alfons sie zu beruhigen versuchte, indem er auf seine Fähigkeiten als Schachspieler hinwies. Aufgebracht und wütend verließen sie das Zelt unter lautem Protest: »Das ist Irrsinn! Mann Gottes, warum dem Feind ohne Not eine Tür offen lassen?«
Die Einzigen, die blieben, um den Zusatz zu den Kapitulationsbedingungen zu bezeugen und schriftlich festzuhalten, waren die Ritter des Johanniterordens. Man kam überein, dass die Christen mit den weißen und die Muslime mit den schwarzen Figuren spielen würden. Der Gewinner sollte entscheiden, was mit dem Turm geschehen würde. Ob er stehenblieb, falls die Christen gewannen, oder ob man ihn zerstörte, falls die Muslime den Sieg davontrugen. Die Schachpartien würden durch Botschaften per Brieftauben ausgetragen werden. Es wurde keine zeitliche Begrenzung für die einzelnen Partien festgelegt; die Züge konnten Wochen oder sogar Jahre dauern. Beide Gegner sollten in ihren Testamenten den- oder diejenigen benennen, der das Spiel fortsetzte, sollte einer der beiden sterben, bevor drei Partien gewonnen waren.
Bruder Lorenzos Stimme riss León aus seinen Gedanken.
»Danke für diese poetische Beschreibung. Nun liegt unser wahres Problem darin, dieses berühmte Schriftstück zu finden, auf dem die beiden Könige die Kapitulationsbedingungen vereinbarten und die Regeln des Spiels festgelegt sind. Also lasst uns zu dem Stein zurückkehren.«
»Hervorragend!«, rief León. »Dann sind wir uns also einig, dass der Stein eine vertrauenswürdige Spur ist. Und bei dieser Inschrift auf der Rückseite, Kd2++, handelt es sich eindeutig um einen Schachzug.«
»Wenn der Stein aus der Kathedrale stammt, könnte es sich auch um ein Steinmetzzeichen handeln«, gab einer der Mönche zu bedenken, der bislang geschwiegen hatte. »An solch monumentalen Bauten waren viele Handwerker beteiligt. Manchmal brachten die Steinmetze Zeichen auf den Steinen an, die sie bearbeiteten, um so ihre Urheberschaft zu belegen und ihre Arbeit abzurechnen.«
»Es könnte auch die Position angeben, die der Stein im Bauwerk einnehmen sollte«, bemerkte ein anderer und strich über das Relief. »Solche Markierungen wurden angebracht, damit der Maurer wusste, wo genau er den Stein einzusetzen
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