Der Turm der Könige
vergaß, ihr Haar zum Knoten zu stecken. Sie trug bequeme Kleidung, die ihren Mutterpflichten nicht im Weg war, falls Abel zu jedweder Uhrzeit nach der Brust verlangte. Sie widmete sich dem Kind mit derselben Hingabe wie zuvor ihrem Geschäft. Sie wollte nicht, dass es von fremden Händen berührt wurde, wachte sorgfältig über seine Sauberkeit und Gesundheit und achtete darauf, dass kein böser Blick es traf. Mamita Lula war die Einzige, die es tragen, ihm die Windeln wechseln oder den Bauch massieren durfte. Nicht einmal von ihrer Mutter ließ Julia sich erweichen, die angesichts der Geburt eines kleinen Stammhalters ihre Vorbehalte wegen der überstürzten Hochzeit mit dem Piraten vergessen hatte. Julia gab ihr das Kind nur widerwillig und nahm es ihr bei der erstbesten Gelegenheit unter irgendeinem Vorwand wieder ab.
»Geben Sie her, Mutter, in Ihrem Alter ist es nicht gut, so schwer zu tragen«, sagte sie. »Sie werden Rückenschmerzen bekommen.«
***
DENNOCH BESTAND JULIAS MUTTER darauf, ihren Enkel heranwachsen zu sehen. Jeden Nachmittag nach der Siesta genehmigte sie sich ihren Kirschlikör, der mittlerweile zu einer heimlichen Gewohnheit geworden war, und machte sich zurecht, um der Druckerei einen Besuch abzustatten.
Da es bei den besseren Familien neuerdings in Mode gekommen war, die Kutsche zu benutzen, war die Stadt voller stinkender Pferdeäpfel, verschreckter Passanten, die nicht mehr wussten, wo sie gehen sollten, und Frauen, die sich über den hochwirbelnden Staub empörten, der ihre Frisuren ruinierte.
»Diese ganzen Neuerungen steigen uns allen zu Kopf«, schimpfte Julias Mutter. »Deshalb werden die jungen Leute immer verrückter: Die Geschwindigkeit ist schuld. Man sollte sich bewegen, wie es die Natur vorgesehen hat, nämlich zu Fuß. Wenn der Herr gewollt hätte, dass wir uns schneller bewegen, hätte er uns Räder statt Füße gegeben. Wo soll das noch enden!«
Als wäre das Treiben der Kutschen noch nicht genug, war an dem Tag, als Julias Mutter das Unglück widerfuhr, der Schädel des heiligen Gregor von Ostia in der Stadt eingetroffen, und in den Straßen wimmelte es von Menschen. Ferdinand VI . hatte verfügt, dass die Reliquie durch das gesamte Land getragen werden sollte. Der König war davon überzeugt, dass er heilende Kräfte habe und Blattläuse und Heuschrecken von den Feldern fernhalte. Und Sevilla, stets bereit, ein Fest zu feiern, bereitete sich auf den Empfang des Heiligenschädels vor.
Es war bewölkt, doch das trübte die Stimmung der Sevillaner keineswegs. Die Prozession mit der Reliquie bewegte sich durch die Stadtmitte. Die Stadtväter trugen ihre Würdenzeichen, und die Bürger zogen in ihren besten Kleidern zu den fröhlichen Klängen des Stadtorchesters vorüber. Die Ritter der »Vierundzwanzig« eskortierten den Erzbischof, der die Menschen rechts und links mit einem Weihwedel besprengte, den er zuvor in Wasser getunkt hatte, in welchem die Nacht über der Schädel gelegen hatte. Die Größten nahmen die kleinen Kinder auf die Schultern, und die älteren Kinder kletterten auf die Dächer, um in der ersten Reihe Platz für die Verkrüppelten zu lassen – vielleicht würden die Gebeine des Heiligen sie ja durch ein Wunder heilen.
Schließlich trug man die Reliquie auf den Glockenturm der Giralda, um sie von dort aus in alle vier Himmelsrichtungen zu halten. Danach wurde der Schädel auf einem purpurroten Samtkissen an einem erhöhten Ort in der Hauptsakristei der Kathedrale ausgestellt, und Vertreter aller Dörfer aus der Umgebung standen Schlange, um ganz nah an ihn heranzukommen. Bevor der Kopf in die nächste Stadt gebracht wurde, war vorgesehen, die Reliquie in das Wasserbecken im Orangenhof zu tauchen und mit diesem Wasser das Taufbecken zu füllen. Eine kleine Gruppe von Aufklärern war empört. Darauf zu vertrauen, dass alles besser werde, weil man einen Totenschädel ins Wasser tunke, sei reiner Aberglaube. Da es jedoch dieselben waren, die vor einem Jahr bezweifelt hatten, dass es sich bei dem Erdbeben um eine Strafe Gottes handelte, wie die Geistlichen das Unglück erklärt hatten, schenkte man ihnen keinerlei Beachtung.
Durch den ganzen Pomp waren die Leute so abgelenkt, dass später niemand genau erklären konnte, wie es zu dem unheilvollen Zwischenfall kommen konnte. Zwar war es an diesem Tag verboten, die Straßen, durch welche die Prozession zog, mit Pferden zu betreten, aber die vornehmen Familien fuhren dennoch so nah wie möglich mit ihren
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