Der Turm der Seelen
irgendwann mal genauer, aber im Grunde wurde ich schon zuvor beschuldigt, auf eine bestimmte Situation nicht kompetent genug reagiert zu haben. Und die Folge davon war, dass ein junges Mädchen einen Selbstmordversuch unternommen hat.»
Sophie zischte ärgerlich. «Um Himmels willen, Merrily, Dennis Beckett …»
«Tatsache ist, dass ich heute Morgen zu Stock gefahren bin und unterwegs die ganze Zeit über Amy Shelbone nachgedacht habe. Ich habe Stocks Situation und den Hintergrund seines Problems völlig vernachlässigt – ehrlich gesagt, habe ich nicht mal geglaubt, dass er überhaupt ein echtes Problem hatte. Und dann, als ich mit ihm gesprochen und gemerkt habe, dass es sehr wohl ein Problem gibt, habe ich da nicht vielleicht im Unterbewusstsein gedacht,
Oh Gott, kann ich das hier auch herunterspielen?
War ich nicht mehr mit der Wahrung meines eigenen Rufs beschäftigt, als damit herauszufinden, was in Stocks Haus vor sich geht? War ich …»
Sie hielt inne, weil sie vor lauter Schluchzen nicht mehr richtig sprechen konnte.
«Trinken Sie Ihren Tee, Merrily», sagte Sophie streng. «Und nehmen Sie sich zusammen.»
Durch einen Tränenschleier sah Merrily, wie Sophie hinausging und Lol hinter sich herwinkte.
Sophie Hill zerrte Lol beinahe die steinernen Stufen des Treppenhauses hinunter. Ihre Miene war angespannt, und ihre Augen wirkten in dem dämmrigen Licht steingrau.
«Mr. Robinson, ich weiß nicht, in welcher Beziehung Sie derzeit zu Merrily stehen, aber Sie stimmen mir sicher darin zu, dass wir sie hier herausbringen müssen, bevor sie noch etwas sagt oder tut, was sie später nicht mehr rückgängig machen kann.»
Lol nickte verblüfft. «Ich tue alles, was ich kann.»
Sophie nahm ihn am Arm, führte ihn bis zum Fuß der Treppe und senkte ihre Stimme. «Ich habe die ganze Sache eben ziemlich kleingeredet, wie Sie vermutlich bemerkt haben.»
Lol nickte. Irgendwie hatte er Sophie von Anfang an gemocht.
«Ehrlich gesagt, ist die Situation ziemlich ernst.» Sie öffnete die Tür zum Torbogen. «Wir wissen beide, dass sowohl die Presse als auch die Kirche von England Merrily fertigmachen werden. Und wenn Merrily glaubt, auch nur den geringsten Fehler gemacht zu haben, wird sie sich nicht dagegen wehren.»
«Sie fühlt sich ja immer für alles verantwortlich.»
«Also», sagte Sophie. «Wo stehen wir? Erstens – ich glaube nicht, dass gegen Stock heute noch Mordanklage erhoben wird, was meinen Sie?»
«Es sei denn, er legt ein Geständnis ab und unterschreibt es.»
«Sogar dann wird nicht sofort Anklage erhoben. Und Sie wissen, was das bedeutet.»
«Die Presse kann sich genüsslich über die Story hermachen. Die Journalisten werden nochmal den ersten Artikel in
People
finden und sehen, dass Merrily angekündigt hat, sich um die Geschichte zu kümmern. Und dann werden sie wissen wollen, ob sie das auch getan hat.»
«Und jede Antwort, die Merrily geben kann, ist falsch. Wenn sie nichts getan hätte, dann wäre die Kirche tödlich pflichtvergessen. Und wenn sie die Wahrheit herausfinden …»
«… machen sie aus Merrily Hundefutter», sagte Lol.
Sophie stand unter der Tordurchfahrt und sah durch den breiten Steinbogen zum Hof des Bischofspalastes hinüber. Eine elegante, weißhaarige britische Dame, die sich eine Strickjacke über die Schultern gelegt hatte. Beeindruckend.
«Ich weiß nicht, wie gut Sie über die Kirche von England Bescheid wissen, Mr. Robinson, aber ich kann Ihnen mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass sie, wie jede andere größere säkulare Organisation, sehr auf Eigennutz und Selbstschutz bedacht ist.»
Lol sagte nichts. Das war keine große Offenbarung.
«Für die Kirche wird es um mehr gehen als um die Beschuldigungen gegen Merrily – es wird um die Glaubwürdigkeit des gesamten Beratungsamtes für spirituelle Grenzfragen gehen. Es könnte sein, dass Merrily einfach fallen gelassen wird, dass die Kirche ihre Hände in Unschuld wäscht. Sie werden eine Untersuchung durchführen, und an deren Ende werden sie sich darauf einigen, dass Merrily eigenmächtig und unüberlegt gehandelt und die Leitlinien missachtet hat, als sie es versäumte, Rat an höherer Stelle einzuholen.»
«Können sie Merrily auch aus der Kirche ausschließen?»
Sophie sah ihm in die Augen. «So wie Sie Merrily kennen – glauben Sie wirklich, das wäre überhaupt noch nötig?»
Merrily stand am Fenster und sah auf die abendliche Broad Street hinunter. Stephanie
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