Der Turm der Seelen
Lol musste an Felsen denken, von denen gleich eine Gerölllawine niedergehen würde. Und er musste an die Sekunden denken, bevor Stock im Dorfpub Adam Lake angekotzt hatte. Er hoffte, dass weder Stock noch seine Frau während des Mordes im Bild wären.
«Wenn ich nicht wüsste, was dann passiert ist, würde ich sagen, er stirbt beinahe vor Angst», sagte Bliss. «Wovor hätte er sich so fürchten können, was meinen Sie, Merrily? Was hätte sie tun können, um ihn so in Panik zu versetzen?»
«Woher soll ich das wissen?» Merrilys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
«Wir suchen nur nach Erklärungsansätzen, das ist alles», sagte Bliss. «Muss nicht mal begründet sein.»
Merrily saß in der Nähe des Fensters, und DCI Howe stand neben ihrem Stuhl wie ein Todesengel. Sie hatten Lol in den Raum gebracht, ihm aber einen Stuhl an der Tür zwischen Frannie Bliss und Mumford, dem anderen Beamten, zugewiesen. Lol konnte unbemerkt nicht einmal einen Blick mit Merrily austauschen.
«Redet nicht viel, diese Stephanie, was?», sagte Bliss. «Macht sie sich immer noch über ihn lustig? Provoziert sie ihn, was meinen Sie? Was tut sie, Lol? Was stellen Sie sich vor?»
Lol sagte nichts. Warum dachte Bliss,
er
könnte das wissen? Hatte er sich mit irgendeiner Reaktion verraten? Hatte Merrily ihnen erzählt, dass Lol und Stephanie kurz vor dem Mord noch alleine oben gewesen waren?
«Man sollte auch bedenken, dass sie unbekleidet war», sagte Bliss, «als wir sie gefunden haben.»
«Ich habe nicht …» Lol dachte an das erste Mal, als er Stock im Pub begegnet war. Derek, der Gastwirt, hatte garantiert mitbekommen, dass Stock gesagt hatte:
‹Meine Frau zerkratzt mir mit ihren Fingernägeln den ganzen Rücken.›
«Stock hat angedeutet, dass seine Frau sexuell ziemlich … aktiv war», sagte Lol. «Er hat vor ein paar Tagen im Pub darüber geredet.»
«Hat er damit angegeben?»
«So ungefähr.»
«Hier wirkt er aber nicht gerade sehr angeturnt, oder?»
Es gab eine Bewegung auf dem Bildschirm – Stock streckte sich an der Wand hinauf.
«Erkennen Sie dieses Ding wieder, Mrs. Watkins?»
«Ja. Es ist ein Hopfenschneider-Haken. Er gehörte zu Stewart Ashs Sammlung von Hopfenzüchter-Werkzeugen. Stock sagte …»
Sie unterbrach sich, weil Stock wieder aus dem Bild gegangen war. Er hatte den Haken in der Hand gehalten. Lol hatte genuggesehen. Howe und Bliss sahen schweigend auf den Bildschirm. Es war jetzt nichts weiter zu sehen als Bodenfliesen, eine geschwungene Backsteinwand und ein Tisch, auf dem ein Buch lag. Der Kühlschrank machte unregelmäßige Geräusche, so als ob sein Metallherz gleich ganz aussetzen würde.
Nach etwa einer Minute hallte irgendwo im Haus, oder vielleicht auch überall im Haus, ein hohl klingendes Brüllen wider, wie von einem Tier, und vermischte sich mit seinem eigenen Echo und dem Geräusch des Kühlschranks.
Wut und Schrecken
, dachte Lol beklommen.
Dann war nur noch das Kühlschrankgeräusch zu hören.
«Was wollten Sie gerade sagen, Mrs. Watkins?», fragte Howe, als würde nur eins von diesen alten Kino-Melodramen laufen, die sie alle auswendig kannten.
« Was
hat Stock gesagt?»
«Er hat mir erzählt, dass er den Haken selbst geschliffen hat.» Merrilys Stimme war ausdruckslos. «Er sagte, nach dem, was Stewart passiert sei, fürchte er immer, dass Einbrecher kommen, und deshalb … wollte er vorbereitet sein.»
Auf dem Bildschirm: Fliesen, Tisch, Buch. Und die einzigen Geräusche stammten von dem Kühlschrank.
Frannie Bliss sagte feinfühlig: «Ich denke, Mrs. Watkins muss sich den Rest nicht mehr ansehen, was meinen Sie, Chef?»
Lol hörte Merrily sagen: «Er sagte, dass es sich womöglich lächerlich anhöre, aber dass er sich auf dem Land einfach nicht sicher fühle.»
«Chef …», sagte Bliss klagend, «glauben Sie
wirklich
, dass das unbedingt …»
Annie Howe antwortete nicht.
In Lols Ohren klang immer noch
‹aber dass er sich auf dem Land einfach nicht sicher fühle›
nach, wie auf einem Endlostonband, als Gerard Stock wieder auf dem Bildschirm auftauchte.
Er hatte den Hopfenschneider-Haken nicht mehr in der Hand.Die Bildqualität war sehr gut, und mit einem Mal hellte sich die Atmosphäre auf, weil die Mittagssonne durch das mittlere Fenster eine goldfarbene Lichtbahn bis auf den Fliesenboden warf. Und in diese Lichtbahn trat Gerard Stock – die Flecken auf seinem weißen Hemd stachen hervor wie Klatschmohn im Schnee – und
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