Der Turm der Seelen
stimmt es ja nicht», sagte sie, «aber ich habe das Gefühl, dass es sehr wohl jemanden gibt, der so manches erklären könnte, und dieser Jemand heißt Simon St. John.»
Lol benutzte das Telefon, das neben Profs Gartenliege stand. Schon nach wenigen Sekunden wurde abgenommen.
«Wer ist am Apparat?»
«Hier ist …» Es fiel ihm jedes Mal schwer, seinen Namen zu nennen. «Hier ist Lol.»
Erleichtertes Seufzen. «Tut mir leid, Kumpel. Ich dachte, du bist einer von der Presse. Wollte dir schon sagen, du sollst dich zum Teufel scheren.»
«Das hast du den Journalisten gesagt?» Es war ihm anscheinend wirklich egal, was man von ihm hielt. Was war das wohl für ein Gefühl, wenn einem die Meinung der anderen egal war? «Haben heute schon viele angerufen?»
«Nicht so viele, wie ich erwartet hatte.» Simon klang müde, als hätte er an diesem Tag schon zu viel reden müssen.
«Und ist die Polizei bei dir gewesen?»
«Kurz.»
Lol sagte. «Also weißt du Bescheid.»
«Wir sind hier in der englischen Provinz», sagte Simon. «Spätestens zum Nachmittagstee weiß hier im Umkreis von zehn Kilometern jeder alles.»
«Du klingst aber nicht besonders überrascht.»
«Das habe ich schon hinter mir.»
«Hör mal», sagte Lol. «Merrily Watkins ist hier.»
«Schön für dich.»
«Es sieht nicht gut aus für sie.»
«Kann ich mir vorstellen.»
«Wir würden gern mal mit dir reden. Jetzt gleich … oder morgen Vormittag? Es gibt ziemlich viel …»
«Nein, gibt es nicht», unterbrach ihn Simon St. John. «Es ist vorbei. Überlass das der Polizei.»
«Warte, wie kannst du …»
«Es ist
vorbei
, Lol.»
Der Vikar legte auf.
Die alte Kiefernholztür von Lols Heuboden führte auf eine Art Galerie, sodass man von oben auf das Mischpult und das gesamte Studio heruntersehen konnte – im Moment fiel Mondlicht durchs Dachfenster auf das Kabelgewirr und die Boswell-Gitarre auf ihrem Ständer.
Es war nach drei Uhr morgens gewesen, als er auf die Galerie gekommen war und sich auf das baufällige Holzgeländer gestützt hatte. In solchen Momenten hatte er früher eine Zigarette geraucht. Vielleicht sollte er wieder damit anfangen, und sei es nur, um die Nächte zu überstehen.
Er hatte wieder von der Hopfenfrau geträumt. Sie hatte ihm zugewinkt, die Ranken um ihren Körper hatten geraschelt, und dieses Mal war sie wirklich ein Geist und kam in einer Kältewolke auf ihn zu, und ihre Augen waren wie Rauch, und Lol war bebend vor Schreck aufgewacht.
Er stand auf der Galerie – die Prof die Musikantengalerie nannte – und dachte an Merrily, die im Cottage schlief, und daran, wie er sie beinahe geküsst hätte. Aber es sollte eben nicht sein, außerdem hatte sie selbst darauf hingewiesen, dass nur seltsame Katzen auf seinen Schoß sprangen.
Und obwohl er jeden Tag an sie dachte, waren sie immer nur durch negative Umstände zusammengeführt worden, und selbst dann … Es war Lol bewusst, dass sie am Abend so eine Art Analyse
seiner
Erfahrungen versucht hatten, aber um Merrilys Erfahrungen hatten sie einen Bogen gemacht: Sie hatten kein Wort darüber verloren, was ihr in der Hopfendarre passiert war, was es gewesen war, das den Husten und den Würgereiz ausgelöst hatte, sodass sie Türen und Fenster hatte aufreißen müssen.
«Es ist vorbei»
, hatte Simon St. John gesagt. War es wirklich vorbei?
Lag Gerard Stock in diesem Moment wach in seiner Zelle auf der Polizeiwache von Hereford, dachte er über den Tag nach, ließ er ihn wie einen Film vor sich ablaufen? Lol versuchte, sich diesen Film vorzustellen – Stock, immer noch wütend, nachdem er Merrily praktisch rausgeworfen hatte, ging zurück zu Stephanie …
Sag nicht nein zu mir
… Die lüsterne Stephanie. Und dann implodierte Stock wie ein altes Röhrenradio.
Wie ein Schlag traf Lol die Erkenntnis, dass Stock mit dieser Tat womöglich ganz gut durchkommen würde, denn inzwischen wurden Verbrechen aus Leidenschaft nur noch in Ausnahmefällen mit lebenslänglich bestraft. Ein Mord im Affekt war vor allem im häuslichen Umfeld eine Einzeltat und der Mörder keine Gefahrfür die Allgemeinheit. In diesem Fall hatte der Mörder unter massivem Stress gestanden, der durch einen fehlgeschlagenen Exorzismus noch gesteigert worden war.
Möglicherweise würde es Merrily am härtesten treffen. Ihre Karriere war zunichtegemacht, und nicht nur ihre Karriere – auch ihre Berufung.
Es ist vorbei.
In der Stunde vor der Morgendämmerung schrieb
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