Der Turm der Seelen
Als könnte sie denken, dass er diese beiden seltsamen, unheimlichen und sexuell aufgeladenen Begegnungen mit Stephanie Stock, bei denen er jeweils davongelaufen war, erfunden hätte. Aber gerade das machte es so glaubwürdig: Davonzulaufen passte unheimlich gut zu Lol.
Natürlich glaubte sie ihm. Aber was sollte das alles beweisen, abgesehen von der Tatsache, dass Stephanie genauso verrückt war wie Gerard?
Als sie Lol über den Hof folgte, reagierte ein Bewegungsmelder, zwei Lampen an der Stallmauer gingen an und tauchten das Cottage in helles Licht. Merrily sah, dass es ursprünglich sehr klein gewesen war, ein typisches Hereforder Landarbeiter-Fachwerkhäuschen. Zwei senkrechte und zwei waagerechte Balken pro Mauer und ein angebauter Schuppen. Der zusätzliche Anbau aus Backstein stammte vermutlich aus dem neunzehnten Jahrhundert und war länger und höher als das Cottage.
«Zurzeit gibt es nur vier Zimmer», sagte Lol und machte sich mit einem langen Schlüssel an der verzogenen Tür zu schaffen. «Aber irgendwann werden noch ein paar der Nebengebäude umgebaut, falls Prof vom Denkmalsamt eine Genehmigung bekommt.»
Merrily dachte, wenn David Shelbone dafür zuständig war, könnte das ein größeres Problem werden, als Prof vermutete.
Sie stellte zu ihrer Überraschung fest, dass ihre Niedergeschlagenheit abflaute. Es war klar, dass der Fall Gerard und Stephanie Stock mehr düstere und unbekannte Aspekte aufwies und komplexer war, als die Polizei oder sie selbst für möglich gehalten hätte. Die Ursachen mussten viel tiefer liegen als bei einem gewalttätigen Wutausbruch, der durch einen missratenen Exorzismus ausgelöst worden war.
Wenn sie sich davon überzeugen konnte, war das schon mal ein Anfang. Sie würde nicht damit zurechtkommen – weder als Exorzistin noch als Pfarrerin oder als Mensch –, wenn sie glauben müsste, dass irgendetwas, das sie getan hatte, indirekt zu diesem brutalen Mord an Stephanie Stock geführt hatte.
«Die Idee ist eigentlich sehr reizvoll», sagte Lol. «Prof will, dass Musiker hierherkommen. Der Aufenthalt soll nicht begrenzt sein, und wenn sie gerade keinen Song aufnehmen, sollen sie sich als Gegenleistung an den allgemeinen Aufgaben hier beteiligen. Van Morrison am Exzenterschleifer, das wär doch was. Mussalles noch werden, aber für Prof tun die Leute sowieso alles.» Er drückte die Haustür auf und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. «Das ist das Wohnzimmer. Es sieht noch ein bisschen … mh …»
Merrily ging hinein und sah sich im kalten Licht zweier nackter Glühbirnen um. Sie hatte mehrere hölzerne Packkisten vor sich, einen Berg Knallfolie, eine Kaminecke voller CDs, einen Fernseher auf einem Kaffeetisch, zwei einfache und einen gepolsterten Liegestuhl, der inmitten einer Eisscholle aus Styroporflocken stand.
«Lol, das ist die reinste Müllkippe.»
«Ja», sagte er. «So könnte man es auch …»
«Man kann es
nur
so nennen, Lol.»
«Die Schlafzimmer sind ordentlicher», sagte er.
Und das stimmte. Merrily entschied sich für das kleinste Zimmer, das lediglich mit einem winzigen Porzellanwaschbecken, einem zotteligen Bettvorleger und einem Bett ausgestattet war. Es lag im alten Teil des Cottages, war aber vor kurzem renoviert worden. Der frische Verputz zwischen den Fachwerkbalken war sehr weiß. Das reichlich kurze Bett hatte nicht mal ein Kopfbrett, doch darauf lag eine neue Bettdecke, sogar noch in Plastik eingeschweißt.
Es war stickig. «Das sollte mein Zimmer werden.» Lol stieß das Fenster auf – eine Scheibe, ungefähr vierzig Zentimeter im Quadrat. «Aber aus irgendeinem Grund bin ich bei meinem Feldbett auf einem der Heuböden über dem Stall geblieben.»
Ja, das passte zu ihm; er brauchte das Gefühl der Unbeständigkeit.
Merrily setzte sich auf das Bett. Sie fühlte sich wie ein Asylbewerber in einem Wohnheim.
«Warte mal kurz.» Lol ging hinaus und kam mit einer kleinen Leselampe zurück. Sie hatte einen geschnitzten Fuß und einen Pergamentschirm. Er stellte sie auf den tiefen Fenstersims undsteckte sie in einer Steckdose darunter ein. Nachdem die nackte Birne an der Decke ausgeschaltet war, tauchte die Leselampe das Zimmer in weiches gelbliches Licht. Mit zwei Handgriffen war die Klosterzelle zum intimen Boudoir geworden.
Lol fragte, ob er ihr etwas zu trinken bringen sollte. «Es ist vermutlich besser, wenn du die Küche heute nicht siehst.»
«So schlimm?»
Er zuckte mit den Schultern. «Die Ratten
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