Der Turm der Seelen
wahnsinnig aufgebauscht worden.» Er wich ihr aus. «Weil es heutzutage so unmodern ist, regelmäßig in die Kirche zu gehen, haben uns die Leute als Fanatiker bezeichnet, die Amy von einem Gottesdienst zum nächsten treiben und zu Hause ein streng religiöses Regiment führen. Ich …» Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. «Es wurden alle möglichen dummen Gerüchte verbreitet. Die Menschen sind so grausam und rachsüchtig. Und die Leute von der Fürsorge haben sehr große Ohren.»
«Und die braucht man nicht mal, wenn einem jemand etwas einflüstert», sagte Merrily. «Hat es denn eine offizielle Anfrage gegeben? Hat die Sozialfürsorge mit Ihnen Kontakt aufgenommen?»
«Ein paar Freunde habe ich noch bei der Arbeit. Sie haben mir einen diskreten Hinweis gegeben, könnte man sagen.»
«Und die Folge davon war, dass Hazel mit Amy weggefahren ist?»
«Ich … nein. Das ist sie gar nicht. Das war nicht die Wahrheit.» Er wandte sich halb ab, und Merrily dachte, er wolle aufsteigende Tränen verstecken, aber dann griff er nur in die Innentasche seines Jacketts.
Dann schob er ihr über den Schreibtisch ein gefaltetes Blatt Papier zu.
Merrily faltete es auseinander. Obwohl der Text mit dem Computer geschrieben worden war, wirkte er nicht amtlich – was vermutlich auch damit zu tun hatte, dass das Papier rosa und in der oberen rechten Ecke mit einem Kätzchen bedruckt war.
Oh Gott.
Liebste Mum und liebster Daddy,
es tut mir so leid. Ich habe mich abscheulich benommen, und es kommt mir so vor, als würde ich euer Leben zerstören. Ich bete darum, dass ihr versteht, was ich tun werde, und mich darin unterstützt und dass ihr euch keine Sorgen um mich macht, denn diese Lektion habe ich wirklich gelernt, und ihr müsst wegen so etwas keine Angst mehr haben.
Ich weiß, dass es nicht eure Schuld ist und dass ihr nur versucht habt, mich zu beschützen, indem ihr mir die Wahrheit über Justine verschwiegen habt, aber ich weiß jetzt auch ganz genau, dass meine richtige Mutter sehr unglücklich ist und ihr Geist keine Ruhe findet, und ich weiß, dass ich nicht einfach so weiterleben kann, bis ich nicht alles versucht habe, um ihr zu helfen.
Wenn ihr das lest, war ich schon am Geldautomaten und habe das Geld von eurem Konto abgehoben, von dem ihr gesagt habt, es gehört mir. Es tut mir leid, dass ich mir eure Kreditkarte ausgeliehen habe. Ich schicke sie euch mit der Post zurück.
Bitte versucht zu verstehen, wie wichtig das für mich ist, und versucht nicht, mich zu finden oder mit der Polizei zu reden. Mir geht es gut, aber wenn ich merke, dass nach mir gesucht wird, werde ich sehr enttäuscht sein und könnte eine Dummheit machen, also bitte vertraut mir, und ich komme in ein paar Tagen nach Hause zurück, wenn Justine ihren Frieden gefunden hat.
Danke. Ich liebe euch.
Eure Tochter
Amy
Merrily faltete den Brief zusammen.
Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
«Hmm … Ich bin derselben Meinung wie Dennis», sagte sie so gelassen sie konnte. «Ich glaube, Sie sollten mit diesem Brief zur Polizei gehen.»
David Shelbone nahm den Brief wieder an sich und steckte ihn hastig ein.
«Nein», sagte er ruhig. «David, sie hat erst vor ein paar Tagen versucht, sich das Leben zu nehmen.»
«Sagen Sie, vertrauen
Sie Ihrer
Tochter, wenn sie Ihnen etwas erzählt?»
«Ich …» Bei Jane und ihr ging es eher um die Dinge, die Jane ihr
nicht
erzählte. «Ja, ich denke schon.» Sie dachte fieberhaft nach. Er wollte aus zwei Gründen nicht zur Polizei gehen:
erstens
, weil Amy möglicherweise wirklich eine Dummheit machen würde, wenn sie glaubte, man würde nach ihr suchen, und
zweitens
, weil es die Befürchtungen jedes Sozialarbeiters bestätigen würde.
Doch diese Entwicklung war vielleicht schwerwiegender, als David Shelbone sich vorstellen konnte. Wie viel wusste er zum Beispiel über Layla Riddock? Wusste er überhaupt etwas über sie?
«Sie hat uns nie angelogen, verstehen Sie», sagte er. «Nicht einmal als kleines Kind. Nie. So haben wir sie natürlich erzogen, aber es gehört auch zu ihrem Charakter.»
Merrily seufzte. «Aber sie hat gelogen. Es tut mir leid, aber was Jane angeht, hat sie gelogen, oder?»
«Nein!», beharrte er. «Das hat sie nicht. Sie sagte, Ihre Tochter war dort. Alles andere war unausgesprochen. Sie hat nicht gelogen.»
«Als Sie Sophie erzählt haben, dass Ihre Frau …»
«Habe
ich
gelogen. Hazel ist unterwegs, um nach ihr zu suchen.»
«Weiß sie denn, wo sie suchen
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