Der Turm der Seelen
verkraften.»
«Und als sie nach Jahren als begeisterte Kirchgängerin Kanonikus Beckett plötzlich den Kelch aus der Hand schlug und …»
«Es ist damals genau vor dem Altar passiert, wissen Sie», sagte David Shelbone. «Das ist der Punkt. Das hat uns am meisten Angst gemacht.»
Niemand erfuhr genau, was geschehen war. Wayne Jukes hatte vermutlich entweder von seinem Anwalt den Rat erhalten oder selbst beschlossen, dass eine Gedächtnislücke seiner Verteidigung dienlich wäre. Also wusste er nicht mehr, was passiert war, nachdem er hinter dem Vorhang herausgetreten war und seineTochter im Taufbecken sitzen sah, während seine Frau sprungbereit auf dem Boden kauerte und das Tranchiermesser im Dämmer der Kirche teuflisch aufblitzte.
Weniger als eine halbe Stunde später fand die Polizei – von Nachbarn alarmiert, die sich nicht in die Kirche wagten – den abgewetzten Teppich des Altarraums blutgetränkt vor, Wayne stand im Mittelgang, das Gesicht vom Auge bis zum Kinn aufgeschlitzt, Justine erbrach Blut über die Kommunionsbank, und Amy saß auf dem Altar und lachte.
«Justine hatte Stichwunden in der Lunge, der Kehle und im Bauchraum», sagte David Shelbone. «Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.»
Die Blutspuren ließen vermuten, dass Justine zuerst Wayne das Messer durchs Gesicht gezogen, dann das Kind auf den Arm genommen hatte und zum Altarraum gerannt war. Die Blutspritzer im Mittelgang zeigten, dass Wayne ihr gefolgt war.
«Sie hat Amy auf den Altar gesetzt, und dann hat sie vor lauter Entsetzen über das, was sie getan hatte, entweder das Messer weggelegt, und er hat es genommen, um sie anzugreifen … oder er hat sie überwältigt und im Zweikampf …»
«Was ist aus Wayne geworden?»
«Wie ich gehört habe, ist er inzwischen aus dem Gefängnis entlassen worden», sagte David Shelbone unbewegt. «Arbeitet für die Jugendhilfe in Bristol.»
«Warum hat mir Hazel das alles nicht erzählt?»
«Weil wir mit niemandem darüber gesprochen haben. Mit
niemandem
. Außerdem waren wir beide fest davon überzeugt, dass uns Gott dabei helfen würde, mit dieser Tragödie fertigzuwerden. Ihre Mutter ist in einer Kirche gestorben, also ist in Amys Kopf vermutlich eins von diesen Bildern aufgeblitzt, bevor ihr bei der Kommunion schlecht wurde.»
«Also hat Hazel nie geglaubt, dass Amy von Justine besessen war?»
«Das spielte doch überhaupt keine Rolle für uns», sagte David Shelbone. «So oder so war sie von der Vergangenheit besessen. Wenn die Erinnerungen durch diese verkommenen Experimente wachgerufen werden konnten, dann konnten sie auch durch Christus ausgetrieben werden. Wir vertreten altmodische Werte, Mrs. Watkins. Heutzutage würden wir als Pflegeeltern wahrscheinlich gar nicht mehr zugelassen werden.»
«Seit wann ist Amy weg?»
«Als wir heute Morgen aufgestanden sind, war sie nicht mehr da. Das war ein furchtbarer Schock. Ihr Bett war unberührt. Ihr Handy war verschwunden. Wir haben versucht, sie anzurufen, aber das Telefon war immer abgeschaltet.»
«Und Sie glauben, Amy ist irgendwie bis ins Black Country gekommen. Gibt es diese Kirche noch?»
«Oh ja. Außerdem haben wir … ihr Zimmer durchsucht. Das haben wir noch nie getan. Wir haben einen alten Straßenatlas von mir unter ihrem Bett gefunden. Sie hatte einen Kreis um die Region gemalt. Hazel hat sich vor ungefähr drei Stunden auf den Weg dorthin gemacht.»
«Wie viel Geld hat Amy?»
«Sie hatte fünfhundert Pfund auf unserem Konto. Sie kann täglich bis zu zweihundert am Automaten abheben.»
«Und was, glauben Sie, würde Amy dort machen?»
«Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, was sie tun werden.»
«Sie?»
«Ich glaube nicht, dass sie allein ist. Das ist einer der Gründe, aus denen ich mit Ihnen sprechen wollte. Ihre Tochter weiß doch vermutlich, wer die anderen Mädchen sind und wo sie wohnen, oder?»
«Haben Sie Amy selbst danach gefragt?»
«Sie wollte es uns nicht sagen … bis auf den Namen Ihrer Tochter. Das war, als Mr. Beckett … Wir haben sie später noch einmal gefragt, als ich kurz davor war, zum Schuldirektor zu gehen, aber sie hat uns versichert, die ganze Geschichte wäre vorbei.»
«Das hat sie Ihnen erzählt?»
«Ich glaube wirklich, sie hat gedacht, die Sache wäre vorbei. Und es war klar, dass sie einen unglaublichen Wutanfall bekommen würde, wenn wir sie weiter ausfragen. Sie hat gesagt, wenn wir versuchen, alles herauszufinden, würde sie …
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