Der Turm der Seelen
die Gebeine ihrer schwarzen Dienerin Sara.»
«Und warum haben die Zigeuner sich Sara als Patronin ausgesucht?» Lol hatte sich zurückgelehnt, sodass sein Gesicht im Schatten lag.
«Die Roma sind ein sehr widersprüchliches Volk», sagte Sally Boswell. «Auffällig, unbeständig und doch zugleich auch feinsinnig und verschwiegen. Ursprünglich waren sie Heiden, und manche sind es immer noch, aber die meisten haben die herrschende Religion der Länder angenommen, in denen sie reisten. Vielleicht haben sie Sara ausgesucht, weil sie die von niedrigster Geburt war, die Anspruchsloseste … die Unaufdringlichste.»
Lol nickte. So etwas verstand er. Wenn er vor der Wahl gestanden hätte, wäre sie auch seine Schutzheilige geworden, dachte Merrily, und erneut brannten Tränen in ihren Augen. Sie war übermüdet, daran lag es.
«Oder», fuhr Sally fort, «vielleicht haben sie Sara auch als christliche Inkarnation der Hindugöttin Kali gesehen. Es wurde viel über Blutopfer geredet, aber das ist vermutlich eine Übertreibung oder eine Verzerrung der Wahrheit.»
«Hmm», sagte Merrily.
Nachdem sie das Studio verlassen hatte, war sie eine Zeitlang über die Felder gewandert, bevor sie wieder in ihre Zelle im Cottage zurückkehrte. Sie wusch sich, zog sich um und kam nach unten, und dann hatten Lol und sie Profs Kühlschrank geplündert,und sie hatte von Layla Riddock und Allan Henry und dem großen weißen Wohnzimmer erzählt, von dem Teppich, dem Bild an der Wand und den Schlüssen, die sie mit Sophie aus diesem Besuch gezogen hatte. Danach hatte Lol vorgeschlagen, Al und Sally Boswell um Rat zu fragen, und hatte die beiden angerufen.
«Kann ich Sie nach ein paar Symbolen fragen?», sagte sie zu Al. «Dem Rad, zum Beispiel.»
«Nur ein Rad?»
«Wie von einem Leiterwagen, mit Speichen.»
Er warf seiner Frau einen Blick zu.
«Geld», sagte Sally. «Reichtum.»
«Also würde man einen goldenen Talisman mit einem eingravierten Rad als Anhänger um den Hals tragen …»
«… um den eigenen Reichtum zu fördern», ergänzte Sally.
« Ich
würde so was nicht tragen.» Al schenkte sich Wein nach.
Merrily fuhr fort: «Und wie ist es mit einer Gruppe von Objekten? Eicheln, Würfeln, einer Hasenpfote … ach ja, und einem Magneten?»
Al trank einen Schluck und stellte dann sein Glas ab. «Dazu würden auch noch ein paar Goldmünzen und ein Vergrößerungsglas passen. Denn diese Person, ganz gleich, wer es ist, will – oder braucht –
beträchtlichen
Reichtum.»
«Und warum würden Sie den Rad-Talisman nicht tragen?»
«Würden
Sie
denn unverdienten Reichtum wollen, meine kleine
Drukerimaskri
?»
«Aber Sie sind kein Priester.»
Seine Augen blitzten. «Woher wollen Sie das wissen?»
«Entschuldigen Sie. Das weiß ich natürlich nicht.»
Er zog scharf die Luft ein. «Mein Vater war ein
Chovihano
. Ziemlich berühmt – ein Schamane, ein Heiler. Er heilte Seelen und Körper und Lebende und Tote. Gibt heute nicht mehr viele von seiner Sorte.»
«Wird das vererbt?»
Mürrisch sah er sie an. «Manchmal. Aber man muss daran arbeiten. Es ist eine Berufung, eine Verpflichtung. Sie verstehen davon ja etwas. Ich … ich war eine Enttäuschung für meine Familie.» Er hob die Flasche fragend in die Runde, erntete nur dankendes Kopfschütteln und schenkte sich selbst nach. «Nein, Sie haben ganz recht. Ich bin kein Priester.»
«Und reich sind Sie auch nicht, », sagte Lol. «Sie bauen nicht genügend Gitarren. Sie könnten eine Boswell-Fabrikation aufmachen und Tausende herstellen, wie … keine Ahnung … wie die Martin-Sippe.»
«Heilige Jungfrau Maria!» Al stand vor lauter Entsetzen halb auf und stieß dabei an den Tisch, sodass etwas Wein verschüttet wurde und die Kerzen unruhig flackerten.
«Nicht dass ich das befürworten würde», sagte Lol. «Ich wollte es nur feststellen.»
«Es stimmt ja. Es stimmt durchaus.» Al schüttelte trübselig den Kopf, setzte sich wieder und füllte sein Glas neu auf. «Ich bin kein Geschäftsmann, Lol, und kein
Chovihano
, und ich lebe schon viel zu lange im
Gaujo land
. Aber ich versuche trotzdem, die alten Regeln zu befolgen. Und die handeln davon, mit leichtem Gepäck zu leben, nur zu nehmen, was man braucht, dabei eine überlegte Wahl zu treffen und manchmal vielleicht auch heimlich etwas zu nehmen. Aber so, dass niemand bemerkt, dass etwas fehlt. Das ist eigentlich kein Diebstahl … wenn niemand bemerkt, dass etwas fehlt.»
Das war eine
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