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Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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fragwürdige Moral, aber Merrily war zu müde, um weiter Fragen zu stellen. Sie nippte an dem süßen, milden Getränk, das Sally ihr gebracht hatte. Anscheinend enthielt es Hopfen und Brennnesseln.
    «Wenn ihr die Wahrheit wissen wollt   … ich zahle immer noch zurück.» Al leerte sein Glas in einem Zug. «Ich zahle für das einzigeMal, bei dem ich etwas genommen habe und   … es bemerkt wurde. Und wie hätte es auch übersehen werden können? Auf diese Art habe ich einen Fluch auf meine Familie herabgezogen, deshalb lebe ich bei den
Gaujos
und verhalte mich unauffällig. Deshalb haben wir auch ein Hopfenmuseum eingerichtet, in dem die meisten Erinnerungsstücke an die Roma hinter verschlossener Tür im Hinterzimmer aufbewahrt werden.»
    Sally Boswell sagte leise: «Du
hättest
bezahlen können.»
    «Lass mich in Ruhe», knurrte Al.
    Darauf breitete sich unbehagliches Schweigen aus. Eine Fledermaus flatterte in einem Bogen über den Tisch hinweg. Merrily fiel noch eine Frage ein.
    «Und was ist mit einem Rad, durch dessen Nabe ein Baum wächst?»
    Al sah auf. «Wo haben Sie das gesehen?»
    «Dieses Muster war in einen Teppich eingewebt. Im Haus des Mannes mit dem Talisman für Reichtum.»
    «Dieses Rad hat nicht unbedingt etwas mit Reichtum zu tun.» Al schenkte sich den letzten Wein ein und zog sich eine neue Flasche heran. «Dieses Rad ist vermutlich das Rad der Medizin. Und der Baum ist der Baum des Lebens. Er wird in drei Bereiche unterteilt. Die Äste sind in der Oberwelt der Visionen und Inspirationen. Der mittlere Bereich, um den das Rad liegt, bezeichnet unser Leben und wie wir damit umgehen. Die Wurzeln schließlich gehören zur Unterwelt der Ahnen   … und des Todes.»
    «Also sind die Toten der Zigeuner nicht in der Oberwelt?»
    Al lächelte reuig.
    Sally sagte: «Nicht alle Zigeuner glauben an den Himmel. Auf jeden Fall sind die Toten fort und verschwunden und sollen es auch bleiben. Die Toten sind ungesund. Der Tod verunreinigt die Orte des Lebens, deshalb wurden auch Sterbende aus ihrer üblichen Wohnumgebung herausgetragen. Und Sterbende wurdenimmer gewaschen und frisch eingekleidet,
bevor
der Tod kam.» Sally klang routiniert, die Museumsleiterin in ihr kam zum Vorschein. «Außerdem dürfen bei den Roma die Namen kürzlich Verstorbener nicht erwähnt werden, denn so könnte man die Toten zurückrufen. Einst wurde sogar der Wagen, der
Vardo,
eines verstorbenen Zigeuners mitsamt all seinen Besitztümern verbrannt, damit ihn nichts in diese Welt
zurückzieht

    «Heutzutage allerdings», sagte Al, «ist ein
Vardo
sehr viel Geld wert, aber es ist immer noch üblich, dass etwas rituell verbrannt wird. Etwas, das in engem Zusammenhang mit dem Toten steht.»
    Durch all das ergab sich eine wichtige Frage, und Lol stellte sie: «Also versuchen die Zigeuner nicht, mit den Toten in Verbindung zu treten?»
    «Davon wird sogar abgeraten», sagte Sally.
    «Aber ist das nicht genau das, was ein Schamane tut – mit den Geistern reden?»
    Merrily nickte dankbar, genau darum ging es.
    «Hauptsächlich redet er mit seinen Ahnen», sagte Sally. «Und das ist etwas anderes. Außerdem auch mit Naturgeistern. Mit den Geistern belebter Dinge. Alles hat einen Geist   … dieser Tisch, diese Bäume dort, der Frome.»
    «Eine Gitarre?», sagte Lol.
    Al wandte sich ihm zu. «Kluger Junge.»
    Merrily sah, wie sich auf Lols Miene Verstehen abzeichnete. «Sämtliches Holz für jede einzelne Gitarre holen Sie sich in einzelnen Stücken von unterschiedlichen Bäumen», sagte er. «Sodass keines dieser Stücke wirklich fehlt. Sodass der Baum überleben kann?»
    «Aha.» Al lehnte sich zurück und legte die Hand hinters Ohr, wie um besser zu hören.
    «Sodass der lebendige Geist des Baumes – beziehungsweise der Bäume – in die Gitarre eingeht», sagte Lol. «Und vielleichtbefragen Sie ja auch den jeweiligen Baumgeist vorher, ob es in Ordnung ist, wenn Sie sich ein Stück Holz nehmen.»
    Al deutete mit seinem langen Zeigefinger auf Lol. «Und jetzt erzähl ich dir noch was, Lol, mein Junge – wenn du dieses Instrument jemals zurückbringst, dann
beleidigst
du diese Geister   … hast du darüber schon mal nachgedacht?» Er warf den Kopf zurück und lachte schallend. Direkt über dem Tisch sah Merrily den vanillefarbenen Vollmond stehen. Es schien jetzt wärmer zu sein als tagsüber, als ob der Mond seine eigene Wärme abstrahlte.
    Sie sagte zögernd: «Unter Zigeunern wäre also jemand, der versucht, Tote wachzurufen

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