Der Turm der Seelen
Gesellschaftsstruktur um jeden Preis. Damals kannte die Polizei noch ihre wahren Aufgaben.
«Conrad war selbst eine Zeitlang Friedensrichter», sagte Sally. «Außerdem war er Meister vom Stuhl in der hiesigen Freimaurerloge. Und die Zigeuner waren Vaganten, und ihre sogenannte Kultur war unheimlich primitiv. Und fürs Lügen waren sie ohnehin bekannt. Außerdem hatten sie einen Hass auf Conrad. Also hat die Polizei mit der Aussage, man habe Rebekah Smith in Conrads Auto einsteigen sehen …»
«Und das wurde mehrfach zu Protokoll gegeben», sagte Al. «Es gab nämlich mehrere Zeugen dafür.»
«Alles Onkel und Brüder?», fragte Lol.
Al lächelte. «Problem erkannt.»
Merrily fiel auf, dass Lol hochkonzentriert war, so als habe er seine Verwirrung und seinen Kummer in ein dringendes Wissensbedürfnis umgeleitet.
«Isabel hat mir erzählt, dass die Polizei am Ende zu dem Schluss kam, die Zigeuner hätten die ganze Geschichte nur erfunden, um Lake ihre Verbannung von seinen Hopfenfeldern heimzuzahlen», sagte er.
Sally nickte. «Das war eine der Vermutungen.»
«Aber Isabel dachte auch, Stewart Ash habe Beweise dafür gefunden, dass Lake mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun hatte. Hat Ash also einfach nur mit den Zeugen der Roma gesprochen, deren Aussagen die Polizei damals lieber nicht beachtet hat?»
«Oh, es war mehr als das», sagte Al. «Es muss mehr als das gewesen sein.»
«Was zum Beispiel?»
«Zum Beispiel Fotos. Rebekah war sehr fotogen.»
Merrily sagte nichts. Lol hatte ihr nichts von alldem erzählt – allerdings war dazu auch keine Gelegenheit gewesen.
«Ganz besonders nackt», sagte Al. Seine Augen schimmerten metallisch auf. «Zigeuner sind nicht gerade sehr verklemmt, und Rebekah … tja, sie war nicht gerade die Verklemmteste unter den Zigeunern. Ich kann mir vorstellen, dass es Momente gab, in denen sie Lake dazu gebracht hat, ihr die Schuhsohlen abzulecken.»
«Conrad hat sehr viel fotografiert», warf Sally hastig ein. «Er hatte gern Bilder von all seinen Ländereien, und auch von allen anderen Dingen, die er besaß – oder besitzen wollte. Deshalb hat er sich eine sehr teure Fotoausrüstung zugelegt.»
«Es klingt so, als
wüssten
Sie, dass Stewart Bilder hatte», sagte Lol.
«Ja, allerdings.» Al streckte seine Finger aus, die keinerlei Anzeichen von Arthritis zeigten. «Wir wussten, dass Stewart einigeBilder gefunden hatte, als er ein paar Umbauten im Darrenhaus machte. Sie waren hinter dem Brennofen versteckt wie eine private Pornosammlung. Stewart hat den alten Ofen noch lange behalten. Ich glaube, es war …» Er sah seine Frau an. «Letztes Frühjahr? Da hat er beschlossen, ihn auszubauen, um mehr Platz in der Küche zu haben.»
«Als er dir die Bilder gezeigt hat, um dich zu fragen, ob du die Frau erkennst, war es auf jeden Fall schon Frühling», sagte Sally. Dann wandte sie sich an Lol: «Als der Ofen ausgebaut war, hat der Maurer hinter dem Ofen eine Stelle gefunden, natürlich weit genug von der Hitze entfernt, an der man ein paar Backsteine herausnehmen konnte. Und dort war eine alte Aktenmappe versteckt, in der Ash ungefähr zwei Dutzend Fotografien fand. Alle zeigten dieselbe nackte Frau.»
«Wenn auch nicht unbedingt dieselben Hopfenranken», sagte Al.
Merrily sah Lol zusammenzucken. Sie zog die Strickjacke enger um sich. Es gefiel ihr nicht, wohin sich diese Geschichte entwickelte.
«Und diese Bilder von Rebekah», sagte Lol, «sollten in Ashs Buch abgedruckt werden, richtig? Und wo sind sie jetzt?»
Al lachte. «Sag du’s mir doch. Er hat mir nur eins davon gezeigt. Er hat aber gesagt, er hätte die anderen auch. Wir waren natürlich aufgeregt, weil es so schien, als würde endlich ein altes Geheimnis aufgeklärt, ein altes Unrecht angeprangert. Aber ich habe ihm ernsthaft geraten, mit niemandem darüber zu sprechen. Auf keinen Fall sollte Adam Lake davon erfahren.»
«Und hat er es erfahren?», fragte Merrily. Sie war nicht davon überzeugt, dass mit diesen Bildern etwas bewiesen werden konnte. War überhaupt eine Verbindung zwischen den Bildern und Lake nachweisbar?
«Wenn, dann hat er es bestimmt nicht von uns», beteuerte Al.
«Falls Adam es erfahren hat», sagte Sally, «dann wahrscheinlich von Stewart selbst. Man muss daran denken, dass Stewart die Hopfendarre billig gekauft hat, nachdem die Konkursverwalter bei Conrad aktiv geworden waren, und dass Conrad ganz kurz danach starb.»
«Der Kaiser ist sehr schnell gealtert und sehr
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