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Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Großeltern und Urgroßeltern aßen zusammen und schliefen im selben Raum. Man war Teil eines einzigen großen schnatternden und flatternden Wesens, erklärte Al.
    Zu den Regeln gehörte, dass junge Zigeunerfrauen
nicht
alleine unterwegs sein sollten. Sie sollten sich außerhalb des Lagers, sogar außerhalb des
Vardos
, immer in Sichtweite der Brüder und Onkel halten. Das gehörte zum traditionellen Selbstschutzsystem.
    Aber wie konnte Rebekah dann verschwinden?
    «Ich zeige Ihnen irgendwann mal ein paar Fotos von ihr», versprach Al. «Wenn man ihr kupferrotes Haar sieht und ihren breiten, lachenden Mund, aus dem die Zähne blitzen, als wollte sie die ganze Welt verschlingen, versteht man vielleicht ein bisschen besser, was falsch gelaufen ist.»
    Niemand hatte eine Erklärung dafür, wie Rebekah so hatte werden können, wie sie eben war. War sie ein
Poshrat
? Auf keinen Fall. Ihre Abstammung war untadelig, sie stammte aus einer guten Familie, und sie war tief in der Tradition verwurzelt. Außerdem hatte sie das zweite Gesicht, beherrschte seit früher Kindheit das
Drukereln
. Rebekah konnte aus der Hand und aus den Augen lesen. Rebekah konnte in andere hineinsehen. Man sagte, dass eine echte
Chovihani
die Frucht einer unheimlichen Vereinigung zwischen einer Romni und einem Elementargeist war. Jeder wusste, wer Rebekahs Mutter war. Aber ihr Vater?
    «Wenn man sich die Bilder genau ansieht, erkennt man in ihrem Gesicht Mut, aber auch Hochmut. Sie hatte keine Angst, alleindraußen zu sein», sagte Al. «Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, und alle sagten, sie wäre am besten schon längst verheiratet.»
    Wenn sie verschwinden wollte, manchmal für eine Nacht und manchmal länger, gelang es ihr immer, ihre Brüder und Onkel zu überlisten, die sich dann das endlose Schimpfen und Jammern aus dem Runzelmund der
Puri Dai
anhören mussten. Aber Rebekah entwischte ihnen trotzdem jedes Mal wieder, wenn sie beschloss, dass es an der Zeit war, einen ihrer Ausflüge in die
Gaujo - Welt
zu unternehmen.
    Es war, als würde etwas in ihr erwachen während der Hopfenernte in Knight’s Frome, wenn die Zigeuner engeren Kontakt zu einer größeren Gemeinschaft hatten als jemals sonst im Jahr. Nachdem sie als vermisst gemeldet, stellte die Polizei fest, dass sie recht bekannt oder jedenfalls stark zur Kenntnis genommen worden war. Beispielsweise in einigen Pubs in Bromyard und Ledbury, aber auch weiter entfernt, in Hereford und Worcester. Eine Frau von Welt, so schien es, besser gesagt: eine Frau aus zwei Welten. Rebekah trug außerhalb des Lagers modische Kleidung und wurde nie als Zigeunerin erkannt. Wie kam sie an diese Kleidung? Wer kaufte sie ihr?
    Es war klar, dass sie aus dem Leben im Clan ausbrechen wollte, sagte die Polizei. Sie wollte mehr von der Welt sehen. Sie sei jetzt vermutlich in Birmingham oder Cheltenham oder in London. Und ganz gleich, wohin es sie verschlagen hatte, sie war bestimmt auf den Füßen gelandet. Sie war dreiundzwanzig, sagten die Leute vom fahrenden Volk. Sie hätte verheiratet sein sollen.
    Sie ist tot, sagte ihre
Puri Dai.
    Aber es wurde nie eine Leiche gefunden.
    Und der Kaiser von Frome, der im Stillen immer noch wegen der Korrumpierung und dem Verrat seiner Frau wütete? Oh, der wurde von der Polizei niemals eingehender befragt.
    Al sah aus, als wolle er ausspucken.
     
    Sally Boswell sagte: «Wenn wir von den sechziger Jahren reden, denken wir immer, das wäre noch gar nicht so lange her.» Sie beugte sich im Licht der Stalllaternen vor, und Merrily dachte, dass sie damals eine umwerfende Schönheit gewesen sein musste.
    «Aber in Wahrheit sind die sechziger Jahre
sehr lange
her», sagte Sally.
    Und ganz besonders die frühen Sechziger, als zum Beispiel um die Königsfamilie noch eine beinahe mystische Aura gelegen hatte oder als auf dem Land noch der Feudalismus herrschte, als die Lakes noch die Landjunker waren, die Nachfahren der normannischen
Herren der Marken
, deren Taten niemals Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung waren.
    Zu Conrad Lakes Freunden gehörten Parlamentsmitglieder und solche, die es noch werden wollten, wie etwa Oliver Perry-Jones. Der Kaiser dinierte und trank mit Stadtratsvorsitzenden, Richtern und Polizeipräsidenten, und zwar in einer Zeit, in der Polizeipräsidenten dazu neigten, hochdekorierte Ex-Offiziere des Zweiten Weltkriegs zu sein, also Männer, für die Stabilität gleichbedeutend war mit der Aufrechterhaltung der sozialen Rangordnung und der

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