Der Turm der Seelen
schnell gestorben», sagte Al mit unüberhörbarer Genugtuung. «Als ihn seine zweite Frau mitsamt dem gemeinsamen Sohn verließ, hatte sein Verstand schon nachgelassen, erzählen die Leute. Angeblich hat er sie regelrecht aus dem Haus getrieben. Und dann hatte der alte Mistkerl genau im richtigen Moment einen Herzinfarkt, während er auf seinen immer stärker schrumpfenden Besitzungen umherpatrouillierte. Er wurde von einem Spaziergänger gefunden, als er sterbend auf dem Hopfenfeld unterhalb des Darrenhauses lag. Ja,
dieses
Hopfenfeld. Ich frage mich, ob der Kaiser noch schnell vor dem Verkauf der Hopfendarre die Fotos zurückholen wollte, als er zusammenbrach, und in dem Bewusstsein starb, dass sein letztes Verbrechen entdeckt werden würde.»
«Warum hätte er sie dort aufheben sollen?», fragte Merrily.
«Das können wir nicht wissen, oder?», sagte Sally. «Vielleicht war es ein altes Versteck von ihm, aus der Zeit, in der das Darrenhaus noch Teil seines Gehöfts war. Das Wohnhaus hat er nach dem Scheitern seiner ersten Ehe abgerissen und für seine zweite Frau ein neues gebaut.»
«Das ist auch so etwas – warum hat er das Wohnhaus abgerissen und die Hopfendarre stehen lassen?»
«Das wissen wir nicht», gab Sally viel zu schnell zurück.
«Und warum hätte er diese Bilder überhaupt aufheben sollen?»
«Aus Besessenheit, Mrs. Watkins.»
Merrily bat um keine näheren Erklärungen. Sie glaubte nicht, dass sie dadurch weiterkommen würden, jedenfalls noch nicht.«Sie wollten mir erklären, warum Stewart Adam Lake von den Fotos erzählt haben könnte.»
«Um vor ihm Ruhe zu haben, natürlich», sagte Al. «Der ist ja auch besessen. Adams Besessenheit besteht darin, sich von dem alten Kaiserreich zurückzuholen, was irgend geht – und ganz besonders
dieses
Gebäude. Vielleicht wusste er ja sogar, dass in der Hopfendarre etwas war, vielleicht war das ja auch einer der Gründe dafür, aus denen er das Darrenhaus so dringend wiederhaben wollte und Stewart das Leben zur Hölle machte. Oder vielleicht hat Stewart auch versucht, ihn mit den Bildern zu erpressen. Wer weiß?»
«Al», sagte Lol sanft. «Wer hat Stewart wirklich umgebracht?»
Al wandte ihm ruckhaft den Kopf zu. «Warum fragst du das ausgerechnet mich?»
«Sie konnten doch nicht zulassen, dass Stewart diese Bilder Adam Lake gibt, oder? Um keinen Preis. Wenn Lake die Bilder bekommen hätte, dann hätte er sie verbrannt. Und dann wäre die Wahrheit niemals ans Licht gekommen.»
Al sah auf seine langen, schlanken Gitarristenfinger hinab. «Ja», sagte er. «Da hast du recht, Lol.»
«Und er hätte es getan, oder?», sagte Lol. «Stewart hätte sie Lake gegeben, um an Geld zu kommen oder einfach, um diese blaue Monsterscheune vor seinen Fenstern loszuwerden – einfach um seinen Frieden und genügend Licht zu haben, um an seinen Büchern zu arbeiten. Ich kannte Stewart Ash zwar nicht, aber er wirkt auf mich nicht gerade wie ein Autor, der auf große Sensationen und Enthüllungen aus ist. Vielleicht hat ihm die Vorstellung, diese Bilder zu publizieren, ja sogar unheimliche Angst gemacht. Wie oft findet man schon Softpornos in Bildbänden über Lokalgeschichte? Conrad Lakes Krieg mit den Zigeunern, der womöglich in einem bisher unentdeckten Mord seinen Höhepunkt fand – dasklingt nicht gerade nach dem passenden Folgeband zu
Das Jahr des Hopfenbauern
, oder?»
Merrily starrte Lol beinahe ehrfürchtig an. Sie fragte sich, wie lange er schon über all das nachdachte. Und sie fragte sich, was auf diesem kalten, unfruchtbaren Hopfenfeld passiert war, das seine Aufmerksamkeit so geschärft hatte.
Einen Moment lang herrschte Stille am Tisch. Dann schob Sally Boswell ihren Teebecher weg.
«Sie haben natürlich recht. Stewart Ash war ein sanftes Gemüt. Ich habe mir viele Sorgen um ihn gemacht, als Adam Lake hinter dem Darrenhaus her war. Stewart war dort so glücklich – hat seine kleinen Bücher zusammengestellt und mit den Leuten aus der Gegend über die Vergangenheit gesprochen. Und seine romantischen Fotos hat er mit einer Ausrüstung aufgenommen, die so alt war, dass Conrad Lake sie ohne weiteres im Müll entsorgt hätte. Sie haben recht – der arme Stewart wollte in seiner geliebten Hopfendarre einfach nur in Ruhe gelassen werden.»
Dann erzählte Sally, dass sie Stewart einmal gefragt hatte, wem er das Haus vermachen wolle. Seiner Lieblingsnichte, hatte er geantwortet, auch wenn sie mit einem grässlichen Kerl verheiratet war. Und es war
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