Der Turm der Seelen
hatte ihr gesagt, sie solle sich von ihnen fernhalten, von diesen unteren Klassen – ebenso gut hätte er Untermenschen sagen können. Während der Erntezeit fuhr Conrad mit seinem Landrover durch die Hopfenfelder wie bei einer königlichen Visite. Die Leute erzählten sich, dass er auf seine Pflücker ungefähr genauso herabsah wie die amerikanischen Baumwollkönige auf ihre Sklaven.
Das war in den fünfziger Jahren gewesen und auch noch zu Beginnder sechziger: Im Kaiserreich von Frome herrschte noch der Feudalismus.
«Ich habe gehört, dass Caroline von den Roma entführt worden sein soll», sagte Lol und fügte hinzu, dass ihm Isabel St. John ein bisschen etwas von der Geschichte erzählt hatte – ein bisschen etwas von der schmutzigen Geschichte Conrad Lakes, die in Stewart Ashs Buch veröffentlicht worden wäre.
«Und ich vermute, das haben sie in gewisser Hinsicht auch getan», sagte Sally.
Caroline hatte besonders mit einer Familie engeren Kontakt, nachdem sie für die Behandlung eines kleinen Kindes gesorgt hatte, das an Meningitis erkrankt war. Caroline hatte mitten in der Nacht ihren Hausarzt gerufen, und er hatte seine Diagnose gerade noch rechtzeitig genug stellen können, um das Kind zu retten. So etwas vergaßen die Roma nicht, und von da an standen der jungen Kaiserin alle Türen offen. Unter Anleitung einer alten Frau, der
Puri Dai
, der Heilerin, und einiger anderer lernte Caroline einen neuen Blick auf die Natur und auf die ganze Welt kennen.
Sie lernte mit leichtem Gepäck zu leben. Nur zu nehmen, was man brauchte, sonst nichts, und dann weiterzuziehen. Feuerholz aus den Wäldchen, Wasser aus den Quellen. Sie lernte das Geheimnis des
Nichtbesitzens
kennen.
«Ökos, Grüne Parteien … an so etwas dachte damals noch niemand.» Sallys Gesicht schimmerte im Licht der Außenlampen, und ihr Haar lag wie eine weiße Wolke um ihren Kopf. «Für Conrad war das natürlich schlimmster Kommunismus. Conrads Gepäck war sehr schwer. Eine Zeitlang dachte Caroline, sie könne ihn ändern, das tun Frauen oft, wie Sie wissen, und manchmal haben sie sogar Erfolg damit. Aber Conrad war schon in den mittleren Jahren und seine Besitzgier unersättlich, und Caroline, noch keine dreißig, lernte viel und schnell … zu schnell.»
«Sie haben ihr ein Geschenk gemacht», sagte Al. «Die Roma, meine ich. Die Mutter des Kleinkinds, an dessen Rettung sie beteiligt war, hat ihr ein Kleid genäht. Ein wundervolles weißes Kleid mit kostbaren Stickereien darauf. Mit Stolz trug sie diese herrliche Robe bei einer Feier zur Ende der Hopfensaison. Das war das erste und auch das letzte Mal, dass sie dieses Kleid tragen sollte.»
«Der Kaiser ist an ihren Schrank gegangen und hat das Kleid herausgeholt», sagte Sally. «Hat es ins Darrenhaus gebracht – ja,
dieses
Darrenhaus. Und dort hat er es dem Ofenheizer gegeben, der es verbrennen sollte. Der Heizer aber brachte es nicht über sich und nahm es mit nach Hause zu
seiner
Frau, die es zu einem Tanzabend trug. Conrad erfuhr davon, und der Heizer war seine Arbeit los. Danach hieß es, das Kleid bringe Unglück, aber trotzdem wollte es niemand zerstören. Es ging von Hand zu Hand und … jetzt haben wir es im Hopfenmuseum. Ich stelle mir gerne vor, dass wir es eines Tages auch ausstellen können. Wenn es sicher ist. Wenn die ganze Geschichte bekannt ist.»
«Wie ist es denn mit Caroline weitergegangen?», fragte Merrily. «Ich vermute, sie hat ihn verlassen.»
«Ja, nachdem … ich glaube, dass Conrad angefangen hat, sie zu missbrauchen.»
«Körperlich?»
«Conrad war ein
Besitzer
. Er wollte den Körper und die Seele. Caroline musste ihn verlassen, und das hat sie natürlich auch getan. Sie hatte ein bisschen eigenes Geld, und die Zigeuner hatten in ihr ein Bedürfnis nach dem
Mehr
… im Weniger geweckt. Es folgte eine diskrete Scheidung. Sie trat in Coombe Springs einer Gesellschaft zur Höherentwicklung der menschlichen Fähigkeiten unter J.G. Bennett bei, der ein Anhänger des armenischen Gurus Gurdjieff war. Aber Caroline spielt von da an für unsere Geschichte keine Rolle mehr. Falls sie jemals zurückkam, dann vermutlich nur, um auf Conrads Hopfenfeldern zu spuken.»
«Sie ist tot?»
«Sie ist unwichtig», sagte Sally. «Jetzt wird Rebekah Smith wichtig.»
Die Roma waren immer sehr beschützerisch, wenn es um ihre Frauen ging. Der Begriff «gemeinschaftliches Leben» beschrieb die Wirklichkeit nur unzureichend. Geschwister, Eltern,
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