Der Turm der Seelen
hatte einen Schlüssel. «Sie weiß nicht, dass ich mir einen Nachschlüssel habe machen lassen. Mir gefällt es nämlich nicht, wenn es Orte gibt, zu denen ich keinen Zugang habe. Und ganz besonders nicht, wenn sie sich auf meinem eigenen Grund und Boden befinden.»
Er ging zuerst hinein. Es gab elektrisches Licht, und er schaltete ein paar umgebaute viktorianische Messing-Öllampen an.
«Unglaublich», sagte Merrily. «Das hier ist ja eine richtige kleine Welt für sich.»
Alles war wundervoll instand gehalten, wirkte aber trotzdem nicht museal. Auch wenn alles – von den beschnitzten und lackierten Paneelen der Kommode bis zu dem hölzernen Rippengewölbe der Decke – glänzend poliert war, so hatte man doch den Eindruck eines bewohnten Raums: Eine Pfanne stand auf dem gusseisernen Ofen, ein Mörser mit Stößel in einem Ring Krümel auf der Kommode, ein Seidentuch war über ein Tischchen ausgebreitet, in dessen Mitte ein Deck Tarotkarten lag.
Und überall waren Bücher. Es mussten über hundert sein. Auf den deckenhohen Regalen, neben den Fenstern. Merrily warf einen Blick auf die Titel. Ein paar Bücher behandelten Zigeunerlegenden, die meisten aber okkultistische Themen. Eines lag quer über den anderen:
Handbuch der sexuellen Magie
.
«Wie alt ist sie?»
«Knapp achtzehn», sagte Allan Henry. «Das bedeutet, dass sie schon seit fünf oder sechs Jahren eine voll entwickelte Frau ist.»
«Hm … wovon genau sprechen wir gerade?»
«Zigeunermädchen werden früher erwachsen. In Laylas Alter sind die meisten von ihnen verheiratet und haben ein bis zwei Kinder. Und in meinem Alter hat man einen Haufen Enkel. Wie Sie schon sagten: eine Welt für sich.»
«Das ist natürlich eine gute Entschuldigung.» Merrily sah Lol an, der noch draußen auf den Stufen stand. Lol kniff die Augen zusammen.
«Allerdings geht Sie das alles überhaupt nichts an.» Allan Henry nahm das Deck Tarotkarten auf und legte es umgehend wieder hin, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. «Layla und ich sind nicht blutsverwandt. Wir haben ja nicht mal den gleichen Familiennamen. Ich war nie ein Vater für sie. Sie wollte mich nie als Vater. Aber, wie gesagt, das geht Sie nichts an, Hochwürden.»
«Nein, das ist eine Sache zwischen Ihnen und Layla und … Mrs. Henry.»
«Mrs. Henry haben wir versorgt.»
«Darauf wette ich.»
Er grinste. Sie sah, dass er immer noch das Rad-Medaillon trug, das für Reichtum stand.
«Wo ist Layla jetzt?»
«Was weiß ich? Sie ist ein freier Mensch.»
«Es ist nur, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie immer gerne wissen, wo alles ist. Wo Sie es zu fassen bekommen.»
Allan Henry wandte sich um und warf einen Blick auf Lol. «Bevor wir noch weitergehen – es gibt ein paar Dinge, über die ich nicht vor Dritten spreche. Juristische Selbstschutzmaßnahme.» Die tiefen Falten, die von seinen Nasenflügeln zu seinen Mundwinkeln verliefen, waren beinahe parallel. Wie eine Leiter ohne Sprossen.
Lol sah Merrily an. «Ich gehe mal ein bisschen spazieren.» Merrily nickte.
«Aber spazieren Sie nirgends herum, wo Sie es nicht sollten, mein Freund», sagte Henry über die Schulter hinweg. «Der Junge im Bungalow ist heute Nacht ziemlich nervös.»
Dem gusseisernen Ofen gegenüber stand ein viktorianisches Sofa. Merrily setzte sich ans eine Ende und legte ihre Hände in den Schoß. Henry saß am anderen Ende und hatte den Arm über die Rückenlehne gelegt.
«War es teuer, dieses Wägelchen?», fragte sie.
«Das können Sie sich kaum vorstellen.»
«Schlägt so ein normales Spielhaus natürlich um Längen. Aber sie ist es wert, oder? Layla?»
«Ich kann hoffentlich davon ausgehen, dass Sie nicht verkabelt sind.»
«Ich werde Ihnen bestimmt nicht erlauben, das zu überprüfen.»
«Manchmal ist sie das reinste Goldstück», sagte er. «Und manchmal so giftig wie Plutonium. Wir hatten einen höllischen Krach, nachdem Sie gegangen waren. Und sie ist hier weggefahren, als – als ich nicht auf sie geachtet habe, aber darüber will ich nicht weiter sprechen.»
«Sie gibt Ihnen Roma-Talismane und dekoriert Ihr Haus mit Amuletten.»
«Na und?»
«Nützt es irgendwas?»
«Kann man wohl sagen.» Er grinste.
Merrily sah zu dem Bücherregal hinauf.
Handbuch der sexuellen Magie.
«Wie lange sind Sie und Layla schon …»
«Länger, als ich jemals vor Ihresgleichen zugeben würde, meine Liebe. Wie schon gesagt, sie werden früh erwachsen, und nicht nur in körperlicher Hinsicht.
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