Der Turm der Seelen
Merrily und Lol in Barnchurch angekommen waren.
«Mom, ich habe sie vollkommen falsch eingeschätzt. Wir haben uns unterhalten, und sie war … ganz normal, wie irgendwer aus der Schule, wie eine Freundin … oh Gott!»
Jane sah aus wie damals als kleines Kind, als sie sich über und über mit Himbeermarmelade beschmiert hatte, nur dass es dieses Mal keine Himbeermarmelade war.
«Layla ist tot, Mom. Ich war bei ihr, als sie gestorben ist. Ich habe sie keuchen und zittern und um Atem ringen sehen … oh, das ist alles so furchtbar …»
Tatsächlich war Layla erst im Krankenwagen gestorben. Einer der Messerstiche hatte ihre Lunge durchbohrt. Es war Eirion, der sie sterben sah – auf dem Weg ins Krankenhaus.
Als die Feuerwehr kam, war die Barnchurch vollkommen ausgebrannt. Die Flammen hatten schon das Dachgestühl erreicht, als Jane und der verwundete Eirion Layla aus der Kirche gebracht hatten.
«Sie muss sich die ganze Zeit hinter dem Wandschirm versteckt haben», sagte er jetzt. «Mit ihrem Messer. Warum hatte sie
ein Messer
dabei?»
«Also … ich glaube, ihre Mutter Justine hat zum Selbstschutz oft ein Messer mitgenommen, wenn sie sich in einer Kirche in der Nähe vor Amys Vater versteckt hat. Mit diesem Messer ist er dann auch auf sie losgegangen.»
«Ich konnte überhaupt nicht fassen, wie … stark sie war. Wie ein Puma oder so. Und dann die Flammen hinter ihr, und dieses weiße Kleid, das sie anhatte. Es war schrecklich, wie eine Urgewalt. Ich habe hinterher am ganzen Körper gezittert. Ich bin sicher, dass ich für den Rest meines Lebens Albträume von ihr haben werde.»
«Diese Eindrücke verblassen mit der Zeit, Eirion. Ganz bestimmt. Sag mal … ich weiß, dass dich die Polizei das schon gefragt hat, aber was glaubst du, war der Auslöser für ihr Verhalten?»
Eirion trank einen Schluck Tee und versuchte dabei, seinen verletzten Arm möglichst nicht zu bewegen. «Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach, seit die Polizei mich das gefragt hat. Ich schätze, wenn man nach einer normalen, rationalen Erklärung sucht, dann war es vielleicht das, was Layla uns erzählt hat. Sie hat nicht gerade besonders nette Kommentare über Amy abgegeben. Kurz bevor es passiert ist, hat sie noch gesagt, Amy wäre ein Monster und gehörte in die Psychiatrie.»
Merrily nickte. «Und wenn man
nicht
nach einer normalen, rationalen Erklärung sucht?»
«Na ja, vorher hat uns Layla erzählt, wie sie dieses spiritistische Zeug angefangen hat, nachdem ihr Stiefvater Amys Geschichte erfahren hatte, als er nach etwas suchte, das er Mr. Shelbone anhängen konnte, weil …»
«Ja, darüber weiß ich Bescheid.»
«Und Layla war total begeistert von dem Ouija, weil sie gedacht hat,
sie
wäre übersinnlich begabt und das Glas würde sich durch
sie
bewegen. Aber je öfter sie es machten, desto klarer wurde ihr, dass es in Wahrheit Amy war.»
«Amy?»
«Layla sagte, Amy wäre ein unheimlich begabtes Medium. Und dass es Amy war, die ihre Mutter … geweckt hat, wenn mandas so sagen kann.» Eirion trank noch ein bisschen Tee. «Ich glaube, Layla stellte sich vor, dass sie ein paar … mmh … erstaunliche Sachen zu sehen bekommen würde, wenn sie mit Amy in engem Kontakt bliebe. Sie sagte – und das fand ich ziemlich gruselig, Mrs. Watkins –, also sie sagte, Justine hätte kurz davor gestanden, sich zu
zeigen
. Deshalb waren sie auch bei Vollmond da draußen. Justine ist nämlich in einer Vollmondnacht gestorben.»
«Und Layla war davon überzeugt, dass Amy das Medium war?»
«Sie hat erzählt, dass sie jahrelang versucht hat, ihre übersinnlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, und auf einmal kommt dieses grässliche, unterdrückte kleine Mädchen an und ist ein Naturtalent. Sie meinte, sie wäre richtig eifersüchtig gewesen. Bedeutet das, dass Amy irgendwie besessen ist?»
«Das weiß ich nicht», sagte Merrily. «Ich vermute, dass sich mediale Veranlagung und die Besessenheit durch einen Geist vor allem durch das Maß an Kontrolle unterscheiden, die eine betroffene Person hat. Das Medium entscheidet selbst, sich dem Geist zu öffnen, und weiß, dass es den Kontakt jederzeit wieder unterbrechen kann.»
«Ungefähr das Gleiche hat Layla auch gesagt.»
«Nur dass wir hier nicht von einem reflektierten Erwachsenen reden, sondern von einem vierzehnjährigen Schulmädchen – und noch dazu von einem ziemlich altmodischen Exemplar –, und die sind gewöhnlich leicht
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