Der Turm der Seelen
zwinkerte Lol zu. «Jedenfalls», sagte er, «könnte das sehr gut der Grund dafür sein, dass zu diesem Cottage hier kein Land mehr gehört. Vielleicht hatte der Bauer Probleme mit der Welke und hat ein Stück Land nach dem anderen verkauft und dann jedes Gebäude, auf das er verzichten konnte. Möglicherweise ist der Onkel von Stocks Frau so an die Hopfendarre gekommen.»
Es war inzwischen Mittag geworden, sodass keine Schatten fielen, doch ein dünner Wolkenschleier milderte die Sonnenhitze.
«Wie ist, mmh … seine Frau denn so?», fragte Lol.
Prof warf ihm einen neugierigen Blick zu. Sein Gehör war höchst sensibel, das reinste Mehrspuraufnahmegerät – manchmal hörte er sogar Zwischentöne, die man beim Sprechen überhaupt nicht hineingelegt hatte.
«Hab sie nie kennenglernt, Laurence. Eher der ruhige Typ, habe ich mir sagen lassen. Das ist ja oft so bei Männern wie ihm – die brauchen Zuhörer.»
«Und was ist dem Onkel passiert?»
«Ha! Entdecke ich da etwa – Verzeihung – ein aufkeimendes Interesse?»
«Also, nicht …»
«Da brauche ich nur die Hopfendarre zu erwähnen und schon läuft’s! Nach unserem kleinen Austausch bist du zu einem deiner Spaziergänge aufgebrochen und mit – ich wage es kaum zu hoffen – einer Idee zurückgekommen? Ich denke an so etwas wie den Song, den du vor ein oder zwei Jahren für Norma Waterson geschrieben hast, ‹The Baker’s Tune›.»
«‹The Baker’s Lament›.»
«Über das langsame Sterben des alten Dorflebens – das war ein guter Song. Ich will dich ja nicht unter Druck setzen, aber hiergibt es auch starke Themen. Wandel und Niedergang. Geh mal in das Hopfenmuseum. Weißt du was, ich mache dir gleich selbst einen Termin.»
«Prof, es besteht kein Grund …»
«Sieh es dir an. Du musst es ja nicht gut finden, aber ansehen solltest du es dir wenigstens.»
Lol gab auf. Wenn eine Lawine kommt, legt man sich am besten auf den Boden und rührt sich nicht mehr.
«Und was
ist
dem Onkel passiert?»
«Ah.» Prof setzte sich auf eine alte Holzbank an der Stallwand und schob sich den Panamahut über die Augen. «Also das, Laurence, ist ganz und gar keine schöne Geschichte.»
Lol wartete. Prof schien ein bemerkenswert umfangreiches Wissen über die Leute zu haben, von denen er behauptete, sie interessierten ihn nicht.
Er sprach unter seinem Hut heraus, die Beine weit von sich gestreckt. «Ich glaube, Simon hat nicht erwähnt, dass dieser Stewart Ash als Autor, Chronist und Sozialhistoriker ein besonderes Interesse an unseren nomadisierenden Freunden besaß. Nicht an den New-Age-Nomaden – an der traditionellen Sorte.»
«Zigeuner?»
Prof nickte. «Roma. Es kamen früher jeden Herbst viele zur Hopfenernte hierher. Das war ein Wahnsinnsaufwand, bevor die Erntemaschinen eingeführt wurden. Manche sind in ihren
Vardos
quer durch Europa gezogen, Jahr für Jahr. Ein prächtiger Anblick – das findest du auch alles im Hopfenmuseum. Die Roma bildeten eine kleine, abgeschlossene Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, und natürlich wollte Ash so viele ihrer Erinnerungen wie möglich für sein Buch sammeln – was sie von den Hopfenmeistern gedacht haben, wie sie behandelt wurden und so weiter. Er war ein Mann mit sozialem Bewusstsein. Na ja, ein paar Roma-Familien kommen noch, um bei der Maschinenernte zu helfen –viele sind es allerdings nicht mehr. Ob sie allerdings dieses Jahr auch wieder auftauchen, nach dem, was passiert ist, weiß keiner. Jedenfalls ist Mr. Ash zu ihnen gegangen, um mit ihnen zu reden. Allerdings widerspricht es der Zigeunertradition, mit Außenstehenden über ihre Angelegenheiten zu sprechen. Es ist ihre Geschichte, warum sollten die
Gaujos
davon profitieren?»
Prof schob seinen Hut hoch, um Lols Reaktion mitzubekommen.
«Das ist nachvollziehbar», sagte Lol vorsichtig.
«Ich habe viel für die Roma übrig», sagte Prof. «Eine verfolgte Minderheit, viele wurden von den Nazis umgebracht.»
Prof sprach selten über dieses Thema. Er nannte sich selbst gern einen «nichtpraktizierenden Juden», doch Lol hatte von anderer Seite erfahren, dass seine Familie unter Hitler erheblich dezimiert worden war. Tanten und Onkel waren ermordet worden, vielleicht auch seine Eltern. Das würde erklären, weshalb Prof, der sich gewöhnlich nicht um seine Nachbarschaft kümmerte, an dieser speziellen Geschichte Interesse gehabt hatte.
«Aber Ash, verstehst du, war in jeder Hinsicht ein großzügiger Mann, und er war bereit, für
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