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Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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die Erzählungen eine Gegenleistung zu erbringen. Er baute mit einigen der Zigeuner so etwas wie eine
Beziehung
auf. Er hätte es jedenfalls so genannt, auch wenn sie dafür vermutlich eine andere Bezeichnung gewählt hätten.»
    «Bedeutet das, dass sie mehr aus ihm herausgeholt haben als er aus ihnen?»
    «Die Roma haben nicht überlebt, indem sie sich irgendwelche Gelegenheiten entgehen ließen, auch wenn das hier wahrscheinlich ein bisschen komplizierter war, als einen Typen auszunehmen und ihm dafür ein paar erfundene Geschichten zu servieren. Unter anderem deshalb kompliziert, weil Ash Vertreter einer
anderen
bedeutenden Minderheit war.»
    «Oh?»
    «Hat er vielleicht
zu enge
Beziehungen mit einigen seiner Freunde aus dem fahrenden Volk geknüpft? Haben sie sein Geld für gewisse Dienste genommen, die sie ihm erwiesen haben? All das wurde vor Gericht nicht thematisiert, als der Fall im Frühjahr verhandelt wurde. Es ging nur darum, dass zwei armselige Wichte nachts bei ihm eingebrochen sind. Es waren Zigeunerjungen, Brüder. Der alte Mann kommt herunter und erwischt sie, wie sie in seiner Fotoausrüstung und seinen Sachen herumwühlen – diese Version stand jedenfalls in der Zeitung. Und dann haben sie den armen Kerl zu Tode geprügelt.»
    «Mein Gott», sagte Lol.
    «Das war letztes Jahr, im Spätsommer. Da hast du’s wieder: Das Landleben ist nicht mehr, was es mal war.» Prof lachte heiser. «Merk dir das, Laurence. Und sieh jeden Abend nach, ob auch alles abgeschlossen ist, wenn ich weg bin.»

4   Der Vorratsspeicher
    St.   Mary the Virgin wachte über Dilwyn wie eine Mutterglucke: eine gute, massive, mittelalterliche Kirche mit einem gedrungenen Turm. Es war das Dorf, das die Aufmerksamkeit auf sich zog. Fachwerk-Cottages wie aus dem Bilderbuch standen um eine sattgrüne Dorfwiese – es war das reinste Filmset, ein Postkartenidyll.
    Eigentlich bemerkte man die Kirche erst, wenn man schon wieder aus dem Dorf hinausfuhr. Und wenn sie nicht aus dem Dorf hinausgefahren wäre, hätte Merrily vielleicht auch die Frau nicht gesehen, die gerade aus der Vorhalle getreten war und nun an ein paar historischen Grabsteinen vorbeiging – es waren nur ein paar einzeln stehende Grabsteine, so als wären die weniger bemerkenswerten Grabmäler weggeschafft worden.
    Die Frau wirkte genauso zeitlos wie die Cottages. Sie war groß, leicht übergewichtig und trug den Kopf hoch erhoben. An ihrem Arm hing ein Einkaufskorb. Man erwartete darin große, rotbackige Äpfel und vielleicht noch ein paar frische, braune Eier.
    Das könnte sie sein, oder?
Merrily nahm den Fuß vom Gaspedal, wendete auf dem Vorplatz des
Crown Inn
und parkte neben der Dorfwiese.
    Es war leicht gewesen, den Bungalow der Shelbones zu finden. Er stand an der Straße Richtung Stretford. In der dortigen Kirche St.   Cosmas und St.   Damian – die mit einer Urinlache und einer geschlachteten Krähe entweiht worden war – hatte sich Merrilys erste peinliche Erfahrung mit dem Exorzismus eines Ortes abgespielt. An den Fenstern des Bungalows hingen Spitzenvorhänge, und davor leuchteten bunte Blumen in den Gartenbeeten. Es gab keine modernen Spielereien – keinen Grillplatz, keinen Springbrunnen. Und niemand hatte auf Merrilys Läuten die Tür geöffnet.
    Aber diese Frau wirkte vielversprechend. Sie war ungefähr im richtigen Alter   – Mitte fünfzig. Mit ihrem dunklen Leinenrock und ihrer leicht ergrauten, braunen Dauerwelle vermittelte sie den Eindruck, dass es ihr nicht allzu viel ausmachte, genauso auszusehen wie ihre Mutter im selben Alter.
    Merrily stellte den Motor ab, kurbelte die Scheibe herunter und wartete, bis die Frau die Dorfwiese erreicht hatte. Es war später Nachmittag, und zum ersten Mal in dieser Woche war der Himmel bedeckt, diesig vor Hitze. Vogelgezwitscher übertönte das leise Verkehrsrauschen, das von der Landstraße nördlich des Dorfes herüberklang.
    Die Frau war stehen geblieben, um etwas in ihrem Korb zu suchen. Erschöpft stieg Merrily aus und lehnte sich gegen die Autotür. Sie trug ein blaues Baumwolljackett und ein weißes Seidentuch über ihrem Priesterkragen, falls die Shelbones ihre Nachbarn nicht wissen lassen wollten, dass sie Besuch von einerfremden Geistlichen bekamen. Merrily hatte im vergangenen Jahr keine Sommerkleidung gekauft, und dieses Jahr war es ihr auch nicht notwendig erschienen. Sie wollte ja nicht verreisen. Zum ersten Mal würde sie zu Hause bleiben, während Jane in die Ferien fuhr – sie

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