Der Turm der Seelen
hinter dem Altar war eine farbige Kreuzigungsszene in blutroten Tönen zu sehen.
«Und haben Sie wieder geheiratet?»
«Nein, ich …»
«Sie haben stattdessen zur Kirche gefunden.» Ein verständnisinniges Nicken von Mrs. Shelbone. «Es ist wichtig, dass man weiß, worin die eigene Bestimmung liegt, nicht wahr? Ich wusste schon sehr früh, dass ich dazu bestimmt war, Mutter zu werden, dass darin meine
Pflicht
im Leben bestand. Meine Aufgabe. Verstehen Sie?»
Merrily lächelte. In Hazel Shelbones Ausdrucksweise lag ein Tadel.
«Aber wir konnten keine Kinder bekommen, Mrs. Watkins! Konnten keine
haben
. Stellen Sie sich das vor. Das hätte beinahe meinen Glauben zerstört. Wir schrecklich grausam Gott ist, habe ich gedacht.»
«Und dann …»
«Aber nach einer Weile habe ich es verstanden. Er hat mich dafür vorgesehen, ein Vorratsspeicher zu werden, verstehen Sie? Ein Speicher mütterlicher Liebe für kleine Kinder, die nach dieser Liebe hungerten. Es war ein Moment größter Freude für mich, als ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin.»
«Also haben Sie …»
«Wir waren viele Jahre lang Pflegeeltern. Und dann haben wir Amy als Säugling angenommen, und Gott hat in seiner Weisheit beschlossen, dass sie bei uns bleiben und unser Kind werden sollte. Wir hatten damals ein sehr großes, heruntergekommenes Haus in Leominster. Wir haben es verkauft und sind hier herausgezogen. Zu der Zeit war Amy fünf Jahre alt, und wir wussten, dass sie für immer bei uns bleiben würde.»
«Ich wusste nicht, dass sie adoptiert ist.» Merrily fragte sich, ob das überhaupt einen Unterschied machte. Als Pflegemutter hatte Hazel Shelbone vermutlich beträchtliche Erfahrung mit Kindern aus zerrütteten Familien und ihren emotionalen Problemen. Sie würde sich nicht so leicht täuschen lassen. «Welchen Beruf hat Ihr Mann?»
«David ist leitender Beamter bei der Denkmalsbehörde in Hereford. Er kümmert sich um historische Gebäude, sorgt dafür, dass sie nicht abgerissen oder ohne Genehmigung umgebaut werden. Vergangenes Jahr haben sie ihm die Frühpensionierung angeboten, aber er meinte, er wüsste nicht, was er dann mit sich anfangen sollte.» Sie wirkte jetzt besorgt. «Inzwischen wünschte ich, er hätte angenommen. Er war in letzter Zeit nicht bei bester Gesundheit, und jetzt …»
Sie sah nach vorne, durch die Öffnung in dem Eichenlettner zum Altar, dann wandte sie sich unvermittelt um und lehnte sich zu Merrily hinüber.
«Wir haben ihr die Kirche nie
aufgedrängt
. Wir haben keinem unserer Kinder die Religion aufgezwungen. Wir haben sie nur in dem Bewusstsein erzogen, dass Gott immer auf sie wartet, falls sie sich ihm eines Tages zuwenden wollen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Indoktrination und der Erziehung von Kindern in einem Haushalt, in dem Gottes Liebe waltet.»
Merrily nickte. «Das ist eine vernünftige Sichtweise.»
«Und Amy hat darauf besser reagiert, als man es sich hätte wünschen können. Sie war eine Tochter, auf die wir wirklich stolz sein konnten – sie hat ihre Eltern respektiert, ihre Lehrer und ihren Gott.» Hazel Shelbone hielt inne und sah Merrily direkt in die Augen. «Sie verstehen doch, dass ich nur so mit Ihnen spreche, weil Sie eine Gottesfrau sind, oder? Es ist nicht meine Angewohnheit, den Namen des Herrn unüberlegt in den Mund zu nehmen, wenn es ohnehin nichts fruchtet. Die Leute vom Sozialdienst, mit denen man als Pflegeeltern und bei Adoptionen zu tun hat, sind meistens
sehr
links orientiert und atheistisch, und sie wenden sich automatisch gegen einen, wenn sie glauben, man wäre ein religiöser Fanatiker. Wir sind
weit
davon entfernt, Fanatiker zu sein, Mrs. Watkins. Wir führen lediglich ein christliches Haus. Und man denkt ja immer, das wäre ein … ein …»
Sie biss sich auf die Unterlippe.
«Ein Schutz für die Kinder?», sagte Merrily sanft.
Hazel Shelbone lehnte sich zurück und atmete tief ein, als würde ihr Gott vor dem, was sie jetzt sagen wollte, eine Infusion himmlischer Stärke verabreichen. «Manchmal, wenn ich jetzt nach Hause komme und sie war allein da, dann ist es so … kalt. Es ist eine Kälte, die man bis in die Knochen spürt.»
Merrily sagte nichts. Wenn sich einmal eine fixe Idee im Kopffestgesetzt hatte, konnte sie alle möglichen Empfindungen produzieren.
«Letzten Sonntag, als ihr … schlecht wurde und wir sie aus der Kirche gebracht haben, hat sie meiner Meinung nach nicht einmal gewusst, wo sie
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