Der Turm der Seelen
gewesen ist. Ihr Blick war absolut leer, als ob ihr Verstand irgendwo anders wäre. Ihr Blick war leer und kalt. Wie die Augen einer Puppe. Verstehen Sie, was ich meine?»
«Ja.»
«Sie hat erst zu Hause angefangen zu weinen, und sogar das waren Tränen des … Trotzes. Ich habe das noch nie bei ihr erlebt, nicht bei Amy. Wir hatten für kürzere Phasen andere Kinder in Pflege, die reizbar und schwierig waren, aber Amy war nicht so. Amy ist
unser
Kind geworden.»
Merrily fragte vorsichtig: «Haben Sie die Sache mit einem Arzt besprochen?»
Hazel Shelbone blinzelte. «Sie meinen, einem Psychiater?»
«Na ja …»
«Wir sind ein christlicher Haushalt, Mrs. Watkins. Wir suchen nach christlichen Lösungen.»
«Ja, das verstehe ich, aber …»
«Vielleicht glauben Sie, wir wären selbstzufrieden geworden, weil wir eine Tochter haben, die immer sorgfältig ihre Hausaufgaben gemacht hat, die gerne in die Kirche gegangen ist, seit sie sieben Jahre alt war … und die übrigens im März dieses Jahres von Bischof Dunmore gefirmt worden ist. Ein Mädchen, das sogar», sie sah Merrily an, deren Seidenschal verrutscht war und nun den Priesterkragen frei ließ, «davon geredet hat, eines Tages Pfarrerin zu werden.»
Merrily dachte an Jane, die in einer hitzigen Diskussion einmal gesagt hatte, da würde sie noch lieber Klofrau werden.
«Sie hatte immer die Bibel auf ihrem Nachttisch liegen – bis sie eines Tages verschwunden war und wir sie unter dem Schrankin einem Gästezimmer wiedergefunden haben. Die heilige Bibel, unter einen Schrank gestopft, wie irgendein altes Telefonbuch! Von demselben Kind, das abends, bevor wir das Licht ausgeschaltet haben, immer hören wollte, dass Gott über uns alle wacht. Und jetzt möchte sie nicht einmal mehr zur Kirche gehen, sie starrt sogar auf ihre Füße, wenn sie nur an der Kirche
vorbeigehen
muss …»
«Seit wann ist das so?»
«Seit fünf oder sechs Wochen. Als sie das erste Mal nicht mitkommen wollte, hat sie behauptet, sie hätte Bauchschmerzen. Tja, und da sie immer ehrlich war, nie versucht hat, sich mit irgendeiner Ausrede vor der Schule zu drücken, haben wir sie natürlich sofort ins Bett geschickt. Beim zweiten Mal … Oh, da war es ein Aufsatz, den sie angeblich für die Schule schreiben musste – sie war immer
sehr
fleißig, wie schon gesagt. Gut, hat ihr Vater gesagt, du musst entscheiden, was dir wichtiger ist, und sie hat versprochen, stattdessen allein zur Abendandacht zu gehen. Und sie hat sich tatsächlich abends umgezogen und ist aus dem Haus gegangen. Aber ich weiß, dass sie nicht in der Kirche gewesen ist. Das
weiß
ich einfach.»
Ihre Stimme war laut genug geworden, um von den Wänden der Kirche zurückgeworfen zu werden, und Merrily blickte schnell über die Schulter, um sicher zu sein, dass sie immer noch allein waren.
«Ein anderes Mal hat sie sich mit besonders heftigen Regelschmerzen entschuldigt. Aber als sie mir vergangenen Sonntag dasselbe nochmal erzählt hat, habe ich ihr die Tage vorgezählt, und ich kann Ihnen versichern, dass mit meinen Rechenkünsten alles in bester Ordnung ist.
‹Oh nein›
, habe ich gesagt,
‹jetzt wird aufgestanden, mein Kind. Sofort!›
Und dann habe ich sie in die Frühmesse mitgenommen.»
«Hat sie Theater gemacht?»
«Sie hat geschmollt. Hat nicht mit uns geredet. Hatte diesen verschwommenen Blick.»
«Hat sie einen Freund?»
«Was soll das damit …? Nein. Sie hat keinen Freund. Abgesehen davon ist sie erst vierzehn.»
«Sind Sie sicher, dass sie keinen Freund hat?» Was konnte die Frömmigkeit einer wohlerzogenen Vierzehnjährigen wohl schneller unterminieren als eine heftige Schwärmerei für einen coolen Jungen, der Religion total scheiße fand? «Wo ist sie Ihrer Meinung nach zum Beispiel tatsächlich gewesen, als sie behauptet hat, sie ginge zur Abendandacht?»
«Ich weiß, was Sie denken, Mrs. Watkins, und
ja
, ich war mit ihr diese Woche beim Arzt, und
nein
, er konnte nicht feststellen, dass irgendetwas bei ihr nicht so ist, wie es sein sollte. Aber … also, ich kann Ihnen versichern, dass diese Sache bei uns zu Hause negative Auswirkungen hat. David hat wieder Migräne und meine … Über allem scheint eine dunkle Wolke zu liegen. Eine ungesunde Wolke. Eine Dunkelheit, sogar jetzt im Hochsommer. Sie können natürlich sagen, das ist nur ein subjektiver Eindruck, aber ich weiß, dass es das nicht ist. Das Kind ist zu einem Gefäß des Bösen geworden.»
Hazel
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