Der Turm der Seelen
Perlmutt verziert. Davon abgesehen war die Holzoberfläche schmucklos und schimmerte matt. Auf Lack oder Politur war verzichtet worden. Um den Hals lief ein zart orangefarbenes Band aus Eibenholz. Sie wirkte wie eine alte Parlour-Gitarre aus dem späten neunzehnten Jahrhundert.
Eine heilige Reliquie. Wie kam sie
hierher
?
Lol sagte ehrfürchtig: «Eine Boswell.»
«Meine Güte!» Der Mann mit dem langen weißen Haar kam hinter dem Verkaufstresen hervor. «Das ist doch nur eine Gitarre!» Achtlos nahm er das Instrument vom Ständer und reichte es Lol. «Los, nimm schon, mein Junge, und spiel ein bisschen. Aber ohne Plektrum, wenn’s recht ist. Ich will nicht, dass sie hinterher aussieht wie eine zerkratzte Schiefertafel.»
«Ich spiele mit Plek sowieso nicht gut.» Lol nahm die Gitarre und legte eine Hand unter ihre schlanke, gewölbte Form.
«Umso besser, mein Freund.» Der Mann klatschte in die Hände,und seine Ringe klickten dabei aneinander. «Plektren, Daumenpicks, das sind doch alles Fingerkondome. Warum hat Gott uns wohl Fingernägel gegeben?» Seine akzentuierte Aussprache mit den weichen Vokalen war nicht zuzuordnen, sie klang ein bisschen nach der Klangfärbung, die Sänger traditioneller Folksongs gerne einsetzten.
Die Gitarre war überraschend leicht.
«Ihre?»
Der Mann lächelte.
‹Sieh dir das Hinterzimmer an›
, hatte Prof augenzwinkernd gesagt. Hinterzimmer?
«Ah, es ist dir peinlich», sagte der koboldhafte Mann. «Na gut. Ich lass dich ein bisschen mit ihr allein.» Er zog hinter dem Verkaufstresen einen Holzstuhl für Lol hervor. «Ich gebe dir nur einen Tipp – geh nicht zu zart mit ihr um. Das lohnt sie dir nicht.» Er hob einen Finger. «Und denk dran, Lol, sie ist nicht heilig. Es ist nur eine Gitarre.»
Lol sah ihn an, unsicher, ob er gerade unverschämtes Glück gehabt hatte oder in eine geheimnisvolle Falle getappt war.
«Unser Prof», der Kobold lächelte und zeigte dabei ein paar Goldzähne. «Prof hat gesagt, dass du früher oder später vorbeikommst.» Er zog die Tür auf. «Ich bin in zehn Minuten zurück. Viel Vergnügen!»
Das Hopfenmuseum lag etwas zurückgesetzt an der Straße Richtung Bromyard. Ungefähr fünfzig Meter davor lag die Abzweigung nach Knight’s Frome. Wie Profs Haus hatten auch die Museumsgebäude früher zu einem Bauernhof gehört, doch in diesem Fall waren noch ein paar Morgen Land dabei. Auf der Wiese vor dem Museum standen zwei Ponys, ein Esel und ein grün und golden bemalter Zigeunerwagen neben einem Teich, auf dem Enten schwammen.
Unter dem Zufahrtsweg war ein Durchlass, durch den der Frome floss.
Bevor er zum Hopfenmuseum aufgebrochen war, hatte Lol für Prof seinen Frome-Song gespielt, zumindest den Teil, der schon fertig war. Der Refrain klang allerdings ein bisschen einfallslos.
«Du kennst die Gegend hier noch nicht gut genug, um den Song fertigzuschreiben», hatte Prof ohne Umschweife gesagt. «Du kannst ja gern darüber schreiben, was für ein kompletter Loser du bist, aber um das auszudrücken, brauchst du noch ein paar gute Bilder. Bis jetzt weißt du über diesen verdammten Fluss nur, dass er Frome heißt und nicht besonders breit ist. Wenn du mich fragst, Laurence, dann ist es höchste Zeit, dass du mal mit Sally im Hopfenmuseum redest. Der Fluss, die Hügel, die Wälder, die Leute – Sally weiß über alles Bescheid.»
«Sally?» Lol hatte ihn angestarrt. «Du kennst diese Frau? Ich dachte, du willst keinen Kontakt mit Einheimischen, es sei denn, sie können richtig gute Musik machen.»
«Zufall», sagte Prof.
Etwa um halb sechs hatte sich Lol auf den Weg gemacht. Als er ankam, schloss der weißhaarige Mann gerade das Gatter an der Zufahrt, doch er hatte Lol trotzdem hereingewinkt. Er sei der einzige Besucher, der an diesem Nachmittag gekommen sei, hatte er gesagt. Der Eintritt kostete ein Pfund, und drinnen wurden ein paar Sachen verkauft.
Aber vermutlich nicht die Boswell-Gitarre, handgefertigt vom großen Alfonso Boswell, der all seinen Gitarren Frauennamen gegeben hatte. Lol spielte die langsame, sphärische Melodie des keltischen Liedes
Moon’s Tune
und dachte dabei an die aufgegebene Hopfenpflanzung, die von der Welke zerstört worden war, und an die Frau, die er dort gesehen hatte. Er hatte inzwischen von ihr geträumt, in einer Nacht sogar zwei Mal. Es waren keine sehr schönen Träume gewesen.
Alles in Ordnung mit dir? Er hatte sie ganz nah herankommen lassen, bevor er sich dann doch verlegen abgewandt
Weitere Kostenlose Bücher